Plötzlich haben alle Brüder

21.2.2013, 00:00 Uhr
Plötzlich haben alle Brüder

© Eduard Weigert

Dienstag, kurz nach acht. Die Schulwoche hat gerade erst begonnen, ein paar Nachzügler schlendern aus dem Schneeregen mit starrem Blick die Treppenstufen der Dr.-Theo-Schöller-Schule hinauf. Es riecht, wie es immer riecht, wenn man sich einer Turnhalle nähert: nach kaltem Schweiß. An den Wänden der langen Korridore hängen gemalte Plakate. Ein Affe ist darauf verewigt, Fitti heißt er. Fittis Grinsen wirkt leicht wahnsinnig.

Plötzlich haben alle Brüder

Hat er eine Vorahnung? Rugby steht auf dem Programm. Genau, Rugby, das ist dieses Eiwerfen ohne Helm, das ist dieser Sport, bei dem zahnlose Hünen wie Abbruchbirnen gegeneinanderlaufen, bei dem sich Spieler gegenseitig in die Luft stemmen und sich komplette Teams durch die Gegend schieben, als wären sie sich in ihrer PS-Zahl messende Schaufelradbagger. Rugby an einer Grundschule, wo die Sportstunde üblicherweise aus Völkerball besteht, aus Stehbock-Freibock, wo man zu Musik auf Matten herumturnt.

In der Turnhalle herrscht Gekreische. Mittendrin liegt ein Haufen Zweitklässler übereinander und lacht sich zu Tode. „Da wird der Ball gerade freigekitzelt“, erklärt Alexander Michl und schaut einem Mädchen zu, dass sich als besonders furchtlos erweist. „Ein Talent“, erkennt er. Inzwischen wurde der Ball von einem anderen über die Linie getragen. Die Freude seiner Mitspieler ist ausgelassener als die der Spanier nach dem Gewinn der letzten Fußball-EM.

Michl, der Tausendsassa der Nürnberger Rugby-Szene und aktuell erster Vorsitzender des Bayerischen Rugby-Verbandes, ist Initiator der „Rugby School Roadshow“, einem Nachwuchsprogramm, das die Faszination des Sports im Rahmen des regulären Sportunterrichts vermitteln soll. Die zweieinhalb Tage, an denen jede Klasse der Dr.-Theo-Schöller-Grundschule in der Schnieglinger Straße eine Schulstunde lang an diesem in Deutschland exotischen Sport schnuppern darf, sind eine Art Testlauf für jenes Programm. Michl, selbst ehemaliger Spieler, ist jemand, der für seinen Sport brennt. „Rugby ist ein Sport für Kinder. Kinder wollen mit dem Ball laufen, sie wollen um den Ball raufen, die Kinder wollen es sich gegenseitig beweisen. Die Regeln sind natürlich entschärft, es kommt wenig zu kritischen Kontakten“, sagt er im Hinblick auf die Eignung des Sports für die Kleinen.

Peter Smutna steht derweil wie eine Eiche auf dem Hallenboden. Um ihn herum Kinder, die etwa so groß sind wie seine Unterarme. Mit großen Augen schauen sie den amtierenden Landestrainer des Bayerischen Rugby-Verbandes, der heute auch ihr Trainer ist, an, und das Einzige, das man hört, ist das Seufzen der Klassenlehrerin, die ihn wohl gerade um seine natürliche Autorität beneidet. Er hat eben eine Wurfübung beendet. „Warum ist der Ball so oft auf den Boden gefallen?“, will er wissen. „Weil der Thomas nicht gefangen hat“, ist eine Antwort, „weil der so geflogen ist“, eine zweite, „weil der Ball so groß ist“, eine dritte. Smutna erklärt ihnen, wie man den Ball beim Rugby zu werfen hat: von unten. Die Zweitklässler nicken, als hätten sie die Weltformel erklärt bekommen.

Auch Konrektorin Heidi Mauder ist beeindruckt. Bedenken, Grundschüler mit Rugby in Berührung zu bringen, hatte sie keine, Vereinsbesuche in der Sportstunde sind ohnehin an der Tagesordnung und werden im Rahmen des „Fit ist der Hit“-Programms gefördert. Dessen Schutzpatron, Fitti der Affe, gibt den Kindern Tipps in gesunder Ernährung als auch Sportangebote. „Vor ein paar Jahren hatten wir die höchste Anzahl an übergewichtigen Kindern“, verrät Mauder. Dank Fittis Hilfe sei das Vergangenheit. Und: Bei genauem Hinsehen weiß man, woher man dessen Grinsen kennt. Der asketische Jogger, der einem bei jeder Tages- und Nachtzeit im Stadtpark begegnet.

Inzwischen hat die Klasse gewechselt. Jetzt entspricht die Größe eines Kindes in etwa der Größe von Smutnas großer Zehe. Mit riesigen Polstern versucht sich je ein Knirpspaar, gegenseitig aus dem Rund zu schieben, begleitet von frenetischen Anfeuerungsrufen. Es wird immer lustiger, immer lauter, ein paar der Jungs am Rand scheinen die Kontrolle über ihre Körper verloren zu haben und rasten völlig aus. Einem Mädchen wird das zu laut, sie versteckt sich lieber in den Zöpfen ihrer Mitschülerin. Am Ende kürt Smutna eine besonders Mutige zum Sieger. Sie verweist zwei Jungs auf die folgenden Plätze, und bald ist auch diese Klasse fertig mit Sport. „Wo hast du die Bälle gekauft?“, will einer noch wissen. Smutnas Antwort „Im Geschäft“ scheint den Fragenden zufriedenzustellen. Flyer gibt es noch, einer will einen zweiten für seinen Bruder. Plötzlich haben alle Brüder.

„Ich wäre froh, wenn ich ein paar von ihnen bei uns im Training wiedersehe“, sagt Michl. Er selbst trainiert die U14 und U16 beim TSV 1846 in Erlenstegen, eine U10 und eine U12 gibt es auch. Jetzt muss er aber gehen, „etwas Richtiges arbeiten“, sagt er und verschwindet im Schneeregen.

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