Prächtiger Bau mit phänomenaler Aussicht

21.11.2019, 11:13 Uhr
Den Turmblick, den Garten und eine Gesamtansicht der Villa Flaschenhofstraße 55 von Südwesten zeigt diese um 1905 geschaffene Jugendstil-Ansichtskarte.

© unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden) Den Turmblick, den Garten und eine Gesamtansicht der Villa Flaschenhofstraße 55 von Südwesten zeigt diese um 1905 geschaffene Jugendstil-Ansichtskarte.

Der östliche Teil der Marienvorstadt zwischen Pegnitz, Dürrenhofstraße, Bahnhof- und Neudörferstraße galt um die vorletzte Jahrhundertwende zumindest in Teilen als rechtes Glasscherbenviertel. Kaum jemand käme auf die Idee, dass sich an seinem östlichen Rand einst eine der mondänsten und größten Villen von ganz Nürnberg befunden hat.

Als der Chemiker Thomas Leykauf 1853 den Entschluss fasste, sich neben dem Vogelsgarten ein standesgemäßes Heim erbauen zu lassen, war das Grundstück in der Flaschenhofstraße 55 noch von hohen, alten Bäumen bestanden, in denen die Vögel zwitscherten. Heute benötigt man schon einen fantasievollen Geist, um sich dieses Idyll auszumalen, während einem von der Bahnhofstraße her die Abgase und das Getöse der Autos und der Straßenbahn die Sinne vernebeln und sich vor einem ein (gleichwohl nicht reizloses) Ensemble von Nachkriegsbauten auftürmt.

Leykaufs unbekannter Baumeister gestaltete die Villa in Anlehnung an den damals modischen Maximilianstil, den sein Namenspate, der bayerische König Maximilian II. Joseph, in München kultivieren ließ. Dieser bestach durch Symmetrie, Axialität und flächiges Dekor, dessen Formen der Architektur italienischer Palazzi der frühen Renaissance entlehnt waren.

Die Gesamtansicht des Areals 114 Jahre später: Zwei Amtsgebäude und ein bescheidener Grünstreifen haben den Platz der Villa und ihres Gartens eingenommen.

Die Gesamtansicht des Areals 114 Jahre später: Zwei Amtsgebäude und ein bescheidener Grünstreifen haben den Platz der Villa und ihres Gartens eingenommen. © Sebastian Gulden

Ein achteckiger Turm an der Nordseite diente als Ausguck. Ein solcher Turm war für den Villenbau der Zeit durchaus typisch: Auch der königliche Bezirksgerichtsrat August Bibel in der Pilotystraße 26 und der Maler August von Kreling am Vestnertorgraben 43 gönnten sich diesen Luxus.

Eben diesen Turm erklomm der Fotograf unserer historischen Ansichtskarte, um den Adressaten die phänomenale Aussicht zu zeigen, die sich von dort oben um 1905 bot: hinüber zur Kunstgewerbeschule (jetzt Amtsgericht), zur Wöhrder Wiese und zur Technischen Hochschule am Keßlerplatz. An der Südseite des Anwesens – wohlweislich auf Abstand zur Villa errichtet – stand ein Nebengebäude, das Leykauf, der mit Friedrich Heyne ein Verfahren zur Herstellung von künstlichem Ultramarin-Farbstoff entwickelt hatte, als Labor diente.

Nachdem Leykauf 1871 verstorben war, übernahmen Dora und Käthchen Zeltner, verehelichte Freifrau von Pechmann, die Villa und ihren parkartigen Garten. Sie waren Töchter des Brauereibesitzers Johann Georg Zeltner, Bruder von Leykaufs Geschäftspartner Johannes Zeltner. In ihrem Auftrag verlängerte Maurermeister Stephan Gebhard, der auch die Villa und Teile der Zeltner’schen Brauerei an der Ostendstraße geplant hatte (die NZ berichtete), das Anwesen 1893 gen Süden.

Architektonisch spannender Lichthof mit Brunnen

1945 lag die Villa wie fast die gesamte Marienvorstadt in Trümmern. Über den kläglichen Ruinen ließ die verwitwete Lilly von Pechmann von Architekt Karl Geiselbrecht ein neues, wesentlich bescheideneres Domizil errichten, das formal an den Heimatstil der Vorkriegszeit anschloss.

Im ausgebrannten Nebengebäude richtete sich Johann Roth eine Notwohnung ein – wie so viele ihrer Art damals ein Schwarzbau. Bis 1958 jagte die Stadt Roth hinterher, um die Gebühr für die nachträglich erteilte Baugenehmigung einzufordern, nur um festzustellen, dass der völlig verarmte Metzgermeister den Betrag im Leben nicht mehr würde aufbringen können.

Damals lebte Roth längst in Döllwang bei Neumarkt, und seinem früheren Heim wie auch jenem der jüngst verstorbenen Freiin von Pechmann stand das Ende bevor. An ihrer statt entstand bis 1962 die neue Dienststelle der Autobahndirektion Nürnberg, des Straßenbau- und des Wasserwirtschaftsamtes (Flaschenhofstraße 53–57), 1963 bis 1965 folgte der Bau des staatlichen Gesundheits- und des Landratsamtes Nürnberg (Flaschenhofstraße 59). Die Entwürfe dazu stammten von Clemens Weber und Helmut Gebhard, die sich im Rahmen eines Wettbewerbs hatten durchsetzen können.

Die beiden quaderförmigen Baukörper mit Stahlbetonskelettkonstruktion und Fassaden aus Sichtbeton und Sandsteinvorsatzplatten sind typische Kinder ihrer Zeit und Bauaufgabe. Von außen nicht sichtbar, aber architektonisch durchaus spannend ist der kreisrunde, mit Bäumen bepflanzte Lichthof des früheren Gesundheits- und Landratsamtes – es ist heute eine Dienststelle des Amtes für Digitalisierung, Breitband und Vermessung – mit einem Brunnen des Münchener Bildhauers Robert Lippl.

Dank diesem haben die Beamtinnen und Beamten zumindest ein wenig Ausblick in die Natur, denn ansonsten ist vom einstigen Idyll gerade einmal ein mit Laubbäumen bepflanzter Wiesenstreifen an der Flaschenhofstraße geblieben. Manchmal zwitschert sogar ein Vögelchen im Geäst. Ob man’s noch hört, ist allerdings eine andere Frage.

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