Prozess um S-Bahn-Tragödie: Jugendkammer hört weitere Zeugen an

21.11.2019, 18:00 Uhr
Die Tat löste bundesweit Entsetzen und Trauer aus. Bei einer Auseinandersetzung an einer Nürnberger S-Bahnstation im Januar wurden zwei 16-Jährige ins Gleis gestoßen und von einem Zug überrollt.

© ToMa Die Tat löste bundesweit Entsetzen und Trauer aus. Bei einer Auseinandersetzung an einer Nürnberger S-Bahnstation im Januar wurden zwei 16-Jährige ins Gleis gestoßen und von einem Zug überrollt.

In der Nacht des 26. Januar 2019 hatten Polizisten begonnen, 185 Zeugen und Zeuginnen zu vernehmen. Es wurden Handys der Jugendlichen sichergestellt, die Aufnahme der Kamera am Bahnsteig wurde ausgewertet. Zehn Monate später wird mit Hilfe dieser Beweismittel in der Jugendkammer I des Landgerichts Nürnberg-Fürth versucht, zu rekonstruieren, wie es am Bahnsteig zu der Schubserei kommen konnte. Und selbst wenn das Video der Überwachungskamera hilft, den Hergang zu klären, stellt sich die Frage, ab wann ein Täter den Tod seines Opfers wollte, wann riskierte und wann eine Rangelei schlicht eskalierte, bis sie tödlich endete.

Mehmet K. (18), so die Verteidiger Philipp Schulz-Merkel und Thomas Lößel, lassen die Bilder vom Bahnsteig nicht los. Nach vier Prozesstagen wiederholt Mehmet K. (die Namen der Angeklagten wurden geändert) sein Geständnis – und präzisiert: Ja, er habe geschubst. Und ja, er nahm es in Kauf, jemandem weh zu tun. Und wörtlich: "Dass Frederik und Luca jedoch hierdurch sterben oder gar von einem Zug überfahren werden könnten, wollte ich natürlich niemals."

Weitere Termine anberaumt

Auch Kirian D. (18) entschuldigte sich bereits und erklärte über die Anwälte Sven Oberhof und Markus Wagner, dass er damals nur einen Freund aus dem Getümmel ziehen wollte, in Bedrängnis geriet und eine Person spontan weg schubste. Es sei richtig, dass ihm klar war, dass jemand ins Gleisbett fallen könnte, er habe aber nicht an einen Zug gedacht. Kein Stoß also, sondern gedankenloses Schubsen?


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Als Luca Ballmann (16) und Frederik Wilke (16) um 0.13 Uhr von einem Zug, er fuhr außerplanmäßig durch den Bahnhof, erfasst wurden, haben Eltern ihre Söhne und Geschwister ihre Brüder verloren. Nun sitzen die Familien, flankiert von ihren Anwälten Wolfgang Wittmann und Benjamin Schmitt, an jedem Prozesstag im Sitzungssaal. Die Nebenkläger sind überzeugt: Am Gleis spielte sich kein Streit mit wechselseitigen Schubsereien ab, in dessen Verlauf zum Zufall wurde, wer ins Gleisbett fiel, wer heute Opfer und wer Täter ist. Luca und Frederik seien angegangen worden, ihr Tod sei keine Folge unglücklicher Umstände, sondern Totschlag.

Die Jugendkammer I hat weitere Termine anberaumt, um weitere Zeugen zu hören – doch können deren Aussagen wirklich zum Gesamtbild beitragen? Aus Gründen des Jugendschutzes wird nicht öffentlich verhandelt und Justizsprecher Friedrich Weitner gibt sich zugeknöpft. Details der Aussagen der Zeugen am Bahnsteig nennt er nicht, er will keine Wertungen der Beteiligten und der Richter vorweg nehmen.

Haben Angeklagten den Zug gesehen?

Bis heute sind die Jugendlichen, die in jener Nacht am Bahnsteig standen, von dem entsetzlichen Geschehen traumatisiert. Viele beklagen Schlafstörungen und Erinnerungslücken. Ungewöhnlich ist das nicht. Unter Fachleuten gelten Zeugen als schlechte Beweismittel. Denn das menschliche Gehirn funktioniert nicht wie ein Rekorder, der alles aufzeichnet und später wiedergibt. Im Gegenteil: Das Gedächtnis puzzelt sich sein Bild von der Vergangenheit aus Bruchstücken der Erinnerung, aus Wissen und Vermutungen ständig neu zusammen — der Ausdruck "Knallzeuge" belegt dies trefflich.

Wer, etwa bei einem Autounfall, nur einen Knall hörte, konstruiert mitunter automatisch, wie es zum Unfall kam — und speichert dies als echte Erinnerung ab. Das Video der Überwachungskamera ist das wichtigste Beweismittel. Bilder sind für alle gleich, meint man. Doch legen die Prozessbeteiligten das Geschehen gänzlich unterschiedlich aus – dies wohl auch deshalb, weil das Video ohne Ton aufgezeichnet wurde. Was am Bahnsteig gesprochen, gar geschrien wurde, bleibt offen. Tatsächlich sind die Lichter des einfahrenden Zuges bereits zu sehen, als am Bahnsteig gerangelt wird. Eine der Kernfragen lautet: Haben die Angeklagten diesen Zug gesehen? Der Prozess geht weiter, mittlerweile wurden Termine bis Mitte Dezember angesetzt.