Prozess um S-Bahn-Tragödie: Urteil soll heute fallen

18.12.2019, 07:03 Uhr
Prozess um S-Bahn-Tragödie: Urteil soll heute fallen

© Michael Matejka

Seit Januar gehen die Familien Ballmann und Wilke durch die Hölle. Die Familien haben ihre Söhne verloren. Frederik und Luca, zwei 16-Jährige, die ihre Zukunft noch vor sich hatten. Am Montag wurden die Plädoyers im Prozess um die S-Bahn-Schubserei gehalten - am Mittwoch soll nun das verspätete Urteil fallen.

Seit 2006 beobachte ich Zivilverfahren und Strafprozesse, sitze als Gerichtsreporterin in verschiedenen Sitzungssälen und beobachte im Justizpalast an der Fürther Straße, in diesem monumentalen Koloss aus Sandstein, wie Recht hergestellt wird.

In diesem Fall nicht. Das Verfahren wurde aus Gründen des Jugendschutzes, so schreibt es das Jugendgerichtsgesetz zwingend vor, nicht öffentlich geführt. Gerichtssprecher Friedrich Weitner informierte die Medien – doch das heißt nicht, dass die Justiz nun die Deutungshoheit beanspruchte und den Medienvertretern den Gang des Verfahrens gefiltert diktierte.

Weitner – neben seiner Tätigkeit als Justizsprecher urteilt er als Richter am Oberlandesgericht – sprach von einer der schwierigsten Aufgaben, die sich ihm bislang stellte.

Gerichtsreporter hören oft stundenlang Zeugen und Zeugen, doch kein Journalist gleicht einem Protokollführer, der Wort für Wort weitergibt. Die Anzahl an Zeilen in der Zeitung ist begrenzt, ebenso wie die Zeit für eine Radio- oder Fernsehreportage. Es gehört zu den Aufgaben jedes Journalisten, auszuwählen. Doch wie soll ein Gerichtssprecher auswählen, was er der Presse mitteilt und dies, ohne zu werten? Nur eine heikle Überlegung in einem Strafverfahren, dass allen an die Nieren geht.

Väter suchten das Gespräch

Unser Gerechtigkeitsgefühl ist zerbrechlich, es will verstehen. Hier schmerzt es. Wie soll es gehen, dieses Drama nachzufühlen?

Die Väter von Luca und Frederik suchten bereits Wochen vor Prozessbeginn das Gespräch mit den Nürnberger Nachrichten. Sie mussten nach dem Tod ihrer Söhne erleben, wie Populisten das Verbrechen an Luca und Frederik missbrauchten. Der Migrationshintergrund der Täter sei nicht die Erklärung für die Tat, erklärten die Väter immer wieder. Ihre festen Überzeugungen berühren zutiefst. Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich wegen Totschlags ermittelt, in den Akten stecken die Vernehmungen einer dreistelligen Anzahl von Zeugen – und doch rückte die Anklagebehörde von dem Vorwurf des Totschlags ab. Körperverletzung mit Todesfolge, das klingt aus Sicht der Eltern zu verharmlosend. Auch für die Populisten, für die großen Vereinfacher, wünschen sie sich ein Urteil mit Signalwirkung.

Ein großes Aufgebot an Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften eilte am 26. Januar zum S-Bahnhof Frankenstadion. Zwei Jugendliche waren ins Gleis gestoßen und vom Zug überrollt worden.

Ein großes Aufgebot an Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften eilte am 26. Januar zum S-Bahnhof Frankenstadion. Zwei Jugendliche waren ins Gleis gestoßen und vom Zug überrollt worden. © Foto: ToMa

Ich verstehe diesen Blick. Nur klare Signale der Justiz erneuern das fundamentale Versprechen des Staates: das Mögliche und Angemessene zu tun, um alle hier lebenden Menschen zu schützen. Ein Richterspruch wird schnell zur Aufforderung für Extremisten: Die Behörden sind untätig – also das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen. Doch das Jugendrecht sieht keine Generalprävention vor, sie darf gar keine Rolle spielen. Im Zentrum des Jugendrechts steht der Erziehungsgedanke.

Es gibt das Video einer Überwachungskamera, trotzdem ist kaum ein Strafverfahren, gerade und erst recht auch dieser Prozess, so einfach wie ein TV-Tatort. Am Sonntag endet der Krimi mit der Festnahme des Täters, die Wahrheit wird gefunden, der Täter bestraft und wir Zuschauer gehen beruhigt zu Bett.

Viele dunkle Flecken

Doch in Wirklichkeit bleiben viele dunkle Flecken zurück: Einer der Freunde von Frederik und Luca hatte an jenem Abend Geburtstag gefeiert. Wie wird er künftig seine Geburtstage erleben? Ein weiterer Freund blieb dem Ausflug der Heroldsberger nach Nürnberg in jener Nacht fern. Was mag in ihm vorgehen?

Am Mittwoch soll das Urteil gesprochen werden. Fest steht nur eines: Bei dieser Tragödie gibt es nur Opfer. Die Väter, die Mütter, die Geschwister, die Jugendlichen, die damals am Bahnsteig standen und bis heute traumatisiert sind, der Lokführer, der in den Bahnhof einfuhr, eine Notbremsung einleitete und dennoch den Tod der Jugendlichen nicht verhindern konnte, die Mutter eines Täters, die verzweifelt im Gerichtssaal weint, alle werden mit den Erinnerungen leben müssen.