Sinti-Siedlung in Nürnberg wird abgerissen

6.2.2018, 06:00 Uhr
Auf diesem Bild von 1981 ist die Siedlung der Sinti und Roma auf dem Wohnwagenplatz in Gebersdorf zu sehen. Die Wohnwagen sind in schlechtem Zustand. Zwei Mädchen spazieren durch das Gebiet.

© Rudolf Contino (Archivbild) Auf diesem Bild von 1981 ist die Siedlung der Sinti und Roma auf dem Wohnwagenplatz in Gebersdorf zu sehen. Die Wohnwagen sind in schlechtem Zustand. Zwei Mädchen spazieren durch das Gebiet.

Der 80-Jährige sitzt in der Uffenheimer Straße 39 in seiner kleinen Küche, in der man vom Boden essen könnte. So sauber blitzen die Fliesen. Die Kündigung des Mietvertrags hält Ludwig Franz in der Hand wie etwas, das er am liebsten wegwerfen und sofort vergessen möchte. So wie Kinder die Augen zumachen und hoffen, damit etwas verschwinden lassen zu können, das ihnen Angst macht.

Er zog 1983 mit seiner Frau und den vier Kinder in das Häuschen, vorher lebten sie in der Uffenheimer Straße im Wohnwagen ohne warmes Wasser, Wolldecken an den dünnen Holzwänden sollten im Winter die bitterste Kälte vom bescheidenen Heim auf vier Rädern abhalten. Der 80-Jährige ist Sinto, überlebte das Konzentrationslager Hohenbruch in Ostpreußen, das der Gestapo in Königsberg unterstand. Nach dem Krieg strandete er in der Uffenheimer Straße. So wie viele andere Sinti, bis zu 500 wohnten hier in Wohnwagen und Verschlägen.

Bis das Evangelische Siedlungswerk (ESW) 1983 die sieben hübschen Häuschen für sie baute. Franz ist der Letzte, der beides erlebte — das alte Leben im Elend und den Umzug ins neue Heim mit Heizöltank und Badewanne. Jetzt schreibt ihm das Evangelische Siedlungswerk, dass er bis Jahresende seine Sachen packen muss. Unter seinem Dach wohnen seit einiger Zeit auch wieder Tochter Eleonore und sein 15-jähriger Enkel. Die 41-Jährige hat Angst, dass ihr Vater mit dem Umzug nicht fertig wird. "Es ist schlimm, so rausgerissen zu werden", sagt er. Das Haus sei beim Einzug "das Paradies" gewesen. Und das sei es für ihn bis heute geblieben.

Die Gründe für den Abriss sind wie so oft finanzielle: Die Häuser müssten energetisch saniert werden, Fachleute schätzen die Kosten auf 156.000 Euro pro Gebäude, teilt das ESW mit. Die ganze Anlage sei aber laut Sachverständigem nur 322.000 Euro wert. Rechne man das gegeneinander, dann rechne es sich eben gerade nicht. Hinzu kommt, dass die wenigen Sinti, die hier noch wohnen und fast alle mit Ludwig Franz verwandt sind, keine höheren Mieten zahlen könnten. Sie leben von Hartz IV.

Ein Gewerbegebiet ist geplant

Was das bedeute, wisse man, schreibt das ESW. Man werde bei der Suche nach neuen Wohnungen helfen, "unsere Bemühungen werden in diesem Fall aktiv und überobligatorisch sein", steht in der Kündigung in gestelztem Deutsch. Franz durfte nie eine Schule besuchen, er kann nicht lesen. Und er weiß nicht, ob er den Versprechungen, die ihm seine Tochter vorliest, glauben kann. Der Sozialausschuss stimmte dem Abriss der "Sinti-Siedlung" zu. Ist der Platz leer gefegt, soll sich Gewerbe ansiedeln.

"Hier kann man eigentlich gar nicht wohnen, Lärm und Dreck sind viel zu heftig", sagt Wolfgang Stricker. Viele Sinti seien in den 35 Jahren krank geworden. Lungenkrebs, Herzkrankheiten, psychische Probleme — von allem habe es hier zu viel gegeben. Stricker ist Sozialarbeiter und hat dafür gekämpft, dass die Sinti bleiben dürfen. In keinem anderen Stadtteil waren sie erwünscht, die CSU hätte sie gern auf Obdachlosenwohnheime verteilt. Seit 1983 kommt Stricker täglich in sein Büro in der schmalen Baracke rechts hinter den Häusern. Bezahlt wird er vom Initiativkreis Nürnberger Sinti, den er mitgründete.

Noch im letzten Sommer stand hier ein Partyzelt

Eigentlich ist der 65-Jährige im Rentenalter, aber er will erst aufhören, wenn die letzten Sinti in vernünftige Wohnungen umgezogen sind. "Ich werde ein Auge darauf haben, wie Stadt und ESW das hier abwickeln", sagt er. Dass Integration am Rande der Gesellschaft, in einem Ghetto im Industriegebiet, nur schwer gelingt, war Stricker immer klar. Er drängte darauf, dass die Jungen wegziehen. Auch Eleonore Franz lebte 15 Jahre außerhalb der Uffenheimer Straße. "Aber ich war mit meinen Kindern oft hier, wir haben auf dem Platz zwischen den Bäumen Geburtstage und Taufen gefeiert", noch im letzten Sommer stand hier ein Partyzelt.

Ihr Onkel Oswald Broschinski wohnt nebenan. "Wir sind verzweifelt", sagt Ehefrau Roswitha. Seit der Kündigung schlafe sie kaum noch. "Wir Sinti halten zusammen, wir wollen auch künftig unbedingt in Sichtweite wohnen." Michaela Florian im Nachbarhaus gehört ebenfalls zur großen Verwandtschaft. Ihr schießen die Tränen in die Augen, wenn sie an den Auszug denkt. Im gegenüberliegenden Haus zieht eine ältere Dame bereits aus, linker Hand wohnt noch eine Alleinerziehende mit zwei Kindern. "Das ist eine gute Freundin von mir", sagt Eleonore Franz. Zwei Häuser stehen bereits leer. Geht es nach Stadt und ESW, sind im Sommer auch alle anderen geräumt.

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