Sorge vor Verarmung: Heimplätze drängen Senioren in die Sozialhilfe

23.8.2020, 05:42 Uhr
Heimplätze kommen Seniorinnen und Senioren teuer zu stehen.

© dpa Heimplätze kommen Seniorinnen und Senioren teuer zu stehen.

Im Mai bekam Elke P. (Name von der Red. geändert) unangenehme Post vom NürnbergStift (NüSt). Der kommunale Altenheimbetrieb teilte ihr mit, dass der Eigenanteil, den ihre Mutter für ihren Platz im Elisabeth-Bach-Haus des Sebastianspitals entrichten muss, um rund 200 Euro steigen wird. "Das war schon ein Schock", sagt Elke P. Drei Monate später bekam sie den endgültigen Bescheid. Als Bewohner mit Pflegegrad 3 muss man ab Juli 2020 zum Beispiel im Elisabeth-Bach-Haus für ein Doppelzimmer 2375,49 Euro entrichten, vorher waren es 2165,30 Euro. "Meine Mutter hat eigentlich eine gute Rente von rund 1700 Euro", sagt Elke P. "Und sie hat immer sehr sparsam gelebt." Aber die Rücklagen der 92-jährigen Seniorin, berichtet P., "schmelzen nun wie das Eis in der Sonne".

Wenn kein Geld mehr da wäre, spränge das Sozialamt ein. Die Bundestagsfraktion der Linkspartei hat kürzlich mitgeteilt, dass bundesweit 36 Prozent der Pflegebedürftigen auf Unterstützung durch den Staat angewiesen sind. In Nürnberg ist das freilich von Träger zu Träger unterschiedlich. Das Bayerische Rote Kreuz, das drei Heime in der Stadt betreibt, hat zum Beispiel eine Quote von knapp 23 Prozent. "Aber unser Einzugsbereich ist auch Laufamholz, Mögeldorf und Langwasser-Nord, also eher gutsituierte Gegenden", sagt Edeltraud Rager vom BRK.

Das NürnbergStift liegt über dem Schnitt

Beim evangelischen Wohlfahrtsverband Stadtmission sind laut Sprecherin Tabea Bozada 34 Prozent der Bewohner in drei Einrichtungen auf Sozialhilfe angewiesen. "Bei uns sind es mehr als im Bundesschnitt", sagt wiederum Michael Pflügner, der als Zweiter Werkleiter des NürnbergStifts die Geschäfte der vier kommunalen Pflegeheime führt (August-Meier-Heim, St. Johannis, Platnersberg, Sebastianspital). Im Schnitt finanzieren 58,81 Prozent der aktuellen Bewohner dieser Einrichtungen ihren Heimplatz über die Sozialhilfe. In St. Johannis beträgt der Anteil sogar 69,11 Prozent.


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Man müsse aber schon die Frage stellen, ob die Sozialhilfe "der Skandal ist oder die Lösung", sagt die städtische Sozialreferentin Elisabeth Ries (SPD), die als Erste Werkleiterin für das NüSt in der politischen Verantwortung steht. "Wer für seinen Pflegeplatz nicht mehr zahlen kann, fällt nicht ins Nichts." Pflügner räumt ein, dass diese aktuellen Erhöhungen in den NüSt-Heimen "heftig" seien und dass die kommunalen Häuser auch im Vergleich in der Nürnberger Pflegelandschaft zum gehobeneren Preissegment zählten – unter anderem, weil das Personal nach Tarif bezahlt werde.

Generell aber sieht Pflügner, der auch dem Vorstand des Bundesverbandes der kommunalen Seniorenund Behinderteneinrichtungen (BKSB) angehört, in den hohen Eigenanteilen ein sozialpolitisches Problem. Bundesweit beträgt die Summe, die die Bewohner von Pflegeheimen selbst stemmen müssen, im Schnitt 2015 Euro im Monat, Tendenz steigend. Mitte 2019 waren es noch 124 Euro weniger. Neben Unterkunft und Verpflegung zahlen die Pflegebedürftigen zum Beispiel Investitionskosten für die nötigen Arbeiten an den Einrichtungen. Den größten Posten bei den Kosten, die der Bewohner selbst stemmen muss, macht aber der über die Pflegeversicherung nicht gedeckte Eigenanteil an den pflegerischen Leistungen aus – und der geht laut Pflügner in die Höhe, wenn die Personalkosten steigen.

Das Erbe wird aufgefressen

"Es ist ein klassisches Dilemma", sagt Konstanze Pilgrim von der Nürnberger Angehörigenberatung. Denn einerseits wolle man gut bezahlte Fachkräfte in der Altenpflege, andererseits wirke ein hoher Eigenanteil abschreckend: "Die Sorge vor Verarmung" führe dazu, dass Menschen zu spät ins Heim kämen und zu Hause unter prekären Bedingungen gepflegt würden.


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Ehepartner von Pflegebedürftigen riskierten ihre eigene Gesundheit, um den Partner nicht in eine Einrichtung geben zu müssen. Zudem hätten viele alte Leute Angst, dass sie ihren Kindern dann nichts mehr vererben könnten, wenn der Pflegeplatz die Rücklagen auffrisst. Das sei eine Frage, die vor allem die alten Leute umtreibe, sagt Pilgrim: "Die Kinder sagen oft, dass es richtig ist, wenn ihre Eltern ihr Geld für sich selbst verbrauchen." Die Expertin befürchtet, dass sich die Lage noch zuspitzt, wenn Bürger mit gebrochenen Erwerbsbiografien und daher schlechteren Renten verstärkt ins Heim müssten.

Falls die Rücklagen weg sind, stehen die Kinder aber in der Regel nicht in der Unterhaltspflicht. Denn während das Vermögen der Ehepartner zur Finanzierung der Pflege herangezogen wird, sind die Kinder bis zu einem Bruttojahreseinkommen von 100 000 Euro davon befreit. Der frühere Landtagsabgeordnete und Pflegebeauftragte Hermann Imhof (CSU) gehörte zu jenen Gesundheitspolitikern, die sich dafür starkmachten, dass dieser Freibetrag gelten soll. Seit dem 1. Januar 2020 ist er gesetzlich verankert.

Imhof, der 2018 nach 15 Jahren aus dem Landtag ausgeschieden ist und inzwischen als stellvertretender Landesvorsitzender des Sozialverbands VdK fungiert, sieht aber weiteren Reformbedarf. "Wir werden die Pflegeversicherung nicht zu einer Vollversicherung ausbauen können", sagt er – aber zugleich müsse man etwas gegen die permanent steigenden Eigenanteile tun.

Sockel-Spitze-Tausch

Imhof und Pflügner verweisen auf das Konzept des sogenannten Sockel-Spitze-Tauschs, für das der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang Modellrechnungen entwickelt hat. Dieses Konzept sieht vor, dass die Bewohner als Sockelbetrag für die Pflege einen eingefrorenen Eigenanteil übernehmen. Darüber hinausgehende (und steigende) Kosten würde die Versicherung übernehmen. Bisher ist es umgekehrt. Und auch die Bezahlung des besagten Sockelbetrags wäre auf vier Jahre begrenzt. Pflügner findet an diesem Modell charmant,dass es das finanzielle Risiko für die Bürger kalkulierbar macht und es ihnen Planungssicherheit verschafft. Die Finanzierung müsste entweder über höhere Beiträge für die Pflegeversicherung erfolgen, so Pflügner, oder aber über Steuergelder.

Sozialreferentin Ries sieht den Spitze-Sockel-Tausch skeptischer. Sie gibt zu bedenken, dass man bei steigenden Pflegeversicherungsbeiträgen die sozialversicherungspflichtige Arbeit verteuern würde. Und wenn man über Steuergelder die steigenden Pflegekosten abdeckt, würde die Allgemeinheit herangezogen, um das potenzielle Erbe der Angehörigen zu schützen – das hält Ries für problematisch.

Die aktuellen Erhöhungen im NürnbergStift haben laut Pflügner nichts mit der Corona-Pandemie zu tun, auch wenn diese für Mehrausgaben und Mindereinnahmen in den Heimen sorgte. Zum Beispiel musste zusätzliches Personal eingestellt werden, um die strengeren Besuchsregeln adäquat umsetzen zu können. Diese Kosten bekommen die Heime aber zumindest anteilig von den Kassen erstattet, wie Stadtmissions-Sprecherin Bozada und Pflügner berichten. Perspektivisch aber könnten durch Corona neue finanzielle Herausforderungen auf das System Pflege zurollen.

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