Gewaltverbrechen an der Wöhrder Wiese

Staatsanwältin sieht Mordversuch und fordert zehneinhalb Jahre

14.9.2021, 09:13 Uhr
Versuchter Mord oder Körperverletzung? Am 20. September will das Gericht urteilen.

© Daniel Naupold, dpa Versuchter Mord oder Körperverletzung? Am 20. September will das Gericht urteilen.

In der Szene war es ein offenes Geheimnis: Im vergangenen Sommer wurde auf der Wöhrder Wiese viel gekifft, an der U-Bahn-Haltestelle rauchten vor allem junge Männer in der Nähe eines Lichtschachtes Kräutermischungen, vor den Blicken der Passanten schützten Büsche. Doch wie uneinsehbar war das Gelände tatsächlich - und wie stark bewachsen?

Am 13. Juli 2020 gegen 17 Uhr stürzte dort Awil M. (21) etwa zehn Meter einen Hang hinab, weil er heimtückisch herab gestoßen wurde, sagt Staatsanwältin Claudia Lochmiller.

Eine unglückliche Verkettung von Umständen, hält Strafverteidiger Michael Spengler dagegen. Er verweist auf Zeugen, die in jener Gegend direkt an der Pegnitz schon jeden Trampelpfad gegangen sein wollen, doch schon aufgrund der dicht gewachsenen Büsche bis heute überrascht sind, wie steil es an der Stelle, die an jenem Nachmittag zum Tatort wurde, abwärts geht.

Zähe Beweisaufnahme

Seit zwei Tagen wird in der Schwurgerichtskammer verhandelt. Die Beweisaufnahme verläuft zäh, schon weil die Zeugen aus dem Obdachlosen- und Drogenmilieu kommen und nicht übermäßig gerne mit Vertretern von Behörden sprechen, mit der Strafjustiz schon gar nicht. Selbst der Geschädigte erscheint nicht freiwillig zu dem Termin, sondern muss erst von der Polizei gesucht, festgenommen und zu Gericht gebracht werden.

Rückblick: An jenem 13. Juli döste Awil M. (Namen der Betroffenen geändert) im Gras - dabei nutzte er aus Sicht des Angeklagten Ahmed S. (25) dessen Schlafplatz. Ahmed S. war damals obdachlos, lagerte an jener Stelle und ging mit seiner Lebensgefährtin und deren Kind regelmäßig an der Wöhrder Wiese spazieren; er muss die öffentliche Parkanlage als sein erweitertes Wohnzimmer empfunden haben. Als er Awil M. liegen sah, entzündete sich angeblich ein Streit, es soll um das Recht an dem Platz gegangen sein und angeblich auch um Drogen.

Ortstermin: Richter tagten an der Wöhrder Wiese

Am Ende lag Awil M. bewusstlos am Abhang. Er hatte eine Kopfverletzung erlitten und mehrere Frakturen an der Hals- und Brustwirbelsäule. Staatsanwältin Lochmiller ist überzeugt, dass Ahmed S. im Streit verärgert an M.s Schultern gegriffen hatte und ihn von sich stieß. Awil M. überschlug sich mehrfach, prallte gegen einen Betonring und blieb dort liegen - aus Sicht der Anklägerin ein Mordversuch. Sie fordert zehneinhalb Jahre Freiheitsstrafe.

Um sich ein Bild von dem Tatort zu machen, tagte die Schwurgerichtskammer an der Wöhrder Wiese. Selbst wenn dieser Ortstermin den Richtern, der Staatsanwältin und dem Verteidiger hilft, die Tat zu rekonstruieren, stellt sich noch immer die Frage, ab wann ein Täter den Tod seines Opfers will, wann riskiert oder ob sich nicht doch die Umstände unglücklich fügten. Und schon weil keiner in die Köpfe der Beteiligten hineinschauen kann, ist der Grat, den Vorsatz des mutmaßlichen Täters zu bestimmen, schmal.

Lebensgefährlicher Sturz

Hat Ahmed S. - schließlich kennt er die Gegend gut - von dem Betonring an dem Hang gewusst? Anklägerin Lochmiller meint: Dies spielt für die rechtliche Wertung überhaupt keine Rolle. Lebensgefährlich, so sieht es schließlich auch der Rechtsmediziner, könne ein Sturz über einen steilen Hang immer werden. Schon weil völlig unkalkulierbar sei, wo Steine und Bäume zu tödlichen Hindernissen werden. Und als Awil M. damals bewusstlos liegen blieb, leistete Ahmed S. keinerlei Hilfe.

"Es war ihm gleichgültig", sagt die Anklägerin. Und sie geht noch einen Schritt weiter: Hier liege kein versuchter Totschlag, sondern ein Mordversuch vor. Als Mörder gilt, wer aus Mordlust, zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs, aus Habgier oder anderen niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.

Mit dem Rücken zum Hang

Und Ahmed S. habe heimtückisch gehandelt, so die Anklägerin in ihrem Plädoyer. Selbst wenn die beiden Männer gestritten haben, musste Awil M. nicht damit rechnen, dass er gleich einen Hang hinab gestoßen werde. Er stand mit dem Rücken zum Abhang und sei arg- und wehrlos gewesen.

Ein Stoß - oder doch nur ein "Schubs"

Doch war es wirklich ein Stoß - oder nur ein Schubs? Im "Zombie-Modus", so schildert ein Zeuge, sei Awil M. an dem Nachmittag herumgegeistert, zur Verdeutlichung bückt sich der Zeuge vor den Richtern, lässt seine Arme und den Kopf hängen. Wie wenig Kraft braucht es, eine solch kraftlose Gestalt zu Boden zu bringen, fragt Verteidiger Michael Spengler. Genügt ein Schubs? Der Hang sei steil, ja - doch angesichts des wuchernden Gebüschs sei dies nicht gut zu sehen. Und schon gar nicht für Männer, die gerade Kräutermischungen rauchten und mit leerem Blick durch andere hindurchsehen.

Auch hatte ein Zeuge aus der Kiffer-Szene versichert, dass er selbst die Gegend gut kenne, den Betonring jedoch niemals zuvor bemerkt habe, wieso also hätte der Angeklagte diese Gefahr vorher erkennen sollen? Und war es Ahmed S. wirklich gleichgültig, dass da ein Mann bewusstlos im Gras lag - oder war er im Drogenrausch und wusste gar nicht, was überhaupt vorgefallen war? Einen Tötungsvorsatz sieht der Rechtsanwalt nicht, er spricht von Körperverletzung, fordert höchstens fünf Jahre Freiheitsstrafe und hofft auf eine Therapie für seinen Mandanten.

Kronzeuge für Drogen-Delikte

Zu Prozessbeginn hatte Ahmed S. durchblicken lassen, dass er sich als Opfer einer Verschwörung fühle, da er der Polizei als eine Art Kronzeuge Aufklärungshilfe zu Drogen-Delikten anbot. Mehr als Spekulationen lieferte er jedoch nicht. Auch fällt keiner der Zeugen durch besonderen Belastungseifer auf - und schon unmittelbar nach dem Geschehen, als die Polizei nach dem Täter fahndete, wurde Ahmed S. von Zeugen nur vage als "fast zwei Meter großer Afghane" beschrieben, obwohl er in der Szene bekannt war.

Am 20.September will die Schwurgerichtskammer ihr Urteil sprechen.

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