Surfen fürs Leben

11.7.2018, 08:00 Uhr
So kann Unterricht auch sein: Schüler vom Sonderpädagogischen Förderzentrum Nürnberg lernten acht Tage surfen und wellenreiten in Nazaré in Portugal.

© Sascha Wolters So kann Unterricht auch sein: Schüler vom Sonderpädagogischen Förderzentrum Nürnberg lernten acht Tage surfen und wellenreiten in Nazaré in Portugal.

Sind sie, daran zweifelt zumindest Timm Fischer keine Sekunde. Was der Studienrat während der acht Tage im Surf-Camp erlebte, während der sogenannten Adventure Week, wird auch er so schnell nicht vergessen. "Der absolute Wahnsinn" sei das gewesen, aus Sicht der drei Lehrer des Sonderpädagogischen Förderzentrums. Und erst recht aus Sicht der acht Jungs im Alter von elf bis 13 Jahren.

Der eine oder andere ist zuvor noch nie geflogen, auch das Meer kannten einige nur aus Schilderungen oder Filmen. Den spektakulären Trip hatten sie sich allerdings erst verdienen müssen. Vier sogenannte Module mussten die acht seit Ende Oktober durchlaufen. Als es unter anderem galt, im Schwimmen das bronzene Abzeichen zu schaffen und ein Selbstbehauptungstraining mit Elementen aus dem Kampfsport hinter sich zu bringen; auch Skateboarding und Stand-Up-Paddling am Wöhrder See oder in Mühlhof zählten zum Vorbereitungsplan.

Die Begeisterung und Motivation seiner acht Schüler für das Projekt "wirmachenwelle", sagt Schulleiter Thomas Lechner, die sei grundsätzlich schon spürbar gewesen, nur eben "extremen Schwankungen" unterworfen. Trotzdem haben sie sich durchgebissen, alle. Auch wenn’s mal nicht so viel Spaß gemacht hat. Das gemeinsame Ziel ließ jeden Einzelnen und auch die Gruppe phasenweise über sich hinauswachsen.

Eine Woche Portugal. Schon in den Tagen davor wuchs die Anspannung, selbst beim Schulleiter. "Wir betreten Neuland", sagte Thomas Lechner Mitte Juni, Gefährdungsanalysen sollten etwaige Bedenken entkräften. "Die Schüler haben gemerkt, dass es sich lohnt, etwas durchzuziehen", schwärmt Timm Fischer, die Vision vom Surf-Camp beflügelte. Schon am zweiten Tag, nach ausführlichen Trockenübungen mit den Profis Sebastian Steudtner und seinem Partner Tom Burton, stürzte sich die Gruppe aus Nürnberg erstmals in die Wellen – die in Nazaré, einem beliebten Szene-Spot, an bestimmten Stellen über 20 Meter hoch werden können.

Sebastian Steudtner ist genau da, unterhalb des berühmten Leuchtturms, regelmäßig im Wasser; der Nürnberger ist einer der besten Big-Wave-Surfer, eine der Ikonen seines Sports. Bis zu drei Minuten muss er die Luft anhalten können, wenn ihn eines dieser bis zu 500 000 Tonnen schweren Ungetüme vom Board holt. Auch deswegen mussten die Schüler in ihrer mehrmonatigen Vorbereitung bestimmte Atemtechniken erlernen, um im Fall der Fälle nicht die Nerven zu verlieren.

Wahre Naturtalente im Weißwasser von Nazaré

Zum Einstieg langten auch deutlich kleinere Wellen; körperliche und vor allem mentale Grenzerfahrungen lassen sich auch im sogenannten Weißwasser sammeln, also da, wo die Wogen bereits gebrochen sind. Bereits am dritten Tag die ersten Erfolge; "wahre Naturtalente" seien die acht aus Nürnberg, kann man auf der Homepage der Paul-Moor-Schule lesen. Noch aussagekräftiger sind die hochgeladenen Fotos: Das ungläubige Lächeln der Surf-Anfänger, wenn sie endlich auf dem Brett stehen, sagt viel mehr als tausend Worte. Sich und den anderen bewiesen zu haben, dass man es kann, sorgte für glänzende Augen.

Sebastian Steudtner kennt das Gefühl, es ist sein Leben. Weil ihn die Schule nicht sonderlich interessierte, zog er bereits mit 16 nach Hawaii, um seinen Traum und sich selbst zu verwirklichen. Als Poolbauer verdiente er sich das nötige Kleingeld, um sein Hobby finanzieren zu können. Auch wenn es ihm manchmal schwerfiel, ließ sich Sebastian Steudtner nicht entmutigen. "Surfen und Sport lehrt uns viele grundlegende Werte: Sich ein Ziel zu setzen, durchzuhalten, fair zu sein und Respekt sich selbst und anderen gegenüber zu entwickeln", so schreibt der Botschafter für die Laureus’ Sport-For-Good-Stiftung auf der Webseite seines im Juni 2017 gegründeten Vereins; seine Schwester Johanna arbeitet als Geschäftsführerin, der Name ist Programm: "wirmachenwelle".

Kinder und Jugendliche, Kids, die es mitunter schwer haben im Leben, sollen durch das Surfen und begleitende Inhalte ihren Horizont erweitern. Surfen als Therapie. Mittlerweile kooperiert "wirmachenwelle" mit pädagogischen Zentren in halb Europa, in England, in Österreich, in Traben-Trarbach, in Hamburg-Harburg. Die gemeinnützige Organisation unter Schirmherrschaft des bayerischen Ministerpräsidenten hat offenbar einiges vor.

Geduld, Respekt, Selbstwertgefühl und Zusammenhalt soll den Teilnehmern vermittelt werden, mit der Reise nach Portugal als krönendem Abschluss. Auf Kosten des e.V., der wiederum auf Spenden angewiesen ist, durften Ende Juni insgesamt 44 Kinder aus verschiedensten Einrichtungen eine unbeschwerte Woche verleben, einfach Kinder sein. Hinterher etwas zu können, wovon andere nur träumen, gab den meisten einen Schub, das Rahmenprogramm wie Fußball im Strandstadion, eine Boots-tour zu Delfinen oder ein Besuch im Aqua-Park kamen ebenfalls prima an.

Besonders unter sozialen Gesichtspunkten lernten die jungen Surf-Schüler fürs Leben. In der gemeinsamen Unterkunft in Nazaré, einer Art Jugendherberge, traten sie auf engem Raum fast zwangsläufig mit gleichaltrigen Fremden in Kontakt, ließen sich aber selbst von der ungewohnten Atmosphäre nicht einschüchtern. Hier und da entwickelten sich Freundschaften; auf einem Gruppenbild ist vereinzelt sogar der berühmte Surfergruß zu sehen. Hang loose. Immer locker bleiben.

Die ungewohnte Leichtigkeit des Seins, so lautet der Masterplan, soll sich möglichst positiv auswirken auf die jeweilige Persönlichkeitsstruktur. Die angeblich heilsame Wirkung des Surfens dokumentieren die erhobenen Daten; Experten versuchen, das Projekt mittels Monitoring und Evaluation auch wissenschaftlich zu optimieren.

"Sie haben sich irgendwie durchgebissen"

Die Premiere Ende Juni, daran sind sich alle Beteiligten einig, war in jeder Hinsicht ein grandioser Erfolg. "Ein Programm mit Wirkung", so umschreibt es Geschäftsführerin Johanna Steudtner, soll begleitetes Surfen sein. Vor und während der Adventure Week selbst diffuse Ängste überwunden und ordentlich Selbstbewusstsein aufgebaut zu haben, kann den Jungs aus Nürnberg jedenfalls niemand mehr nehmen und auch künftig in Stress-Situationen enorm helfen, glaubt Timm Fischer. Die letzten zwei, drei Tage am Atlantik seien vor allem körperlich phasenweise richtig anstrengend gewesen für seine tapferen Schüler. Runter vom Brett, rauf aufs Brett. Im 16 Grad kalten Wasser. Egal. "Sie haben sich irgendwie durchgebissen."

Dass seine acht seit der Rückkehr aus Portugal am 1. Juli in ein kleines Loch fallen könnten, glaubt er nicht. Es geht schließlich verheißungsvoll weiter. Eine Kanu-Tour sei geplant, andere Aktivitäten, möglicherweise ebenfalls nachhaltige Erlebnisse. Die aber bestimmt nicht so aufregend und inspirierend werden wie die fantastischen Erfahrungen in Portugal. Dem Fazit auf der Homepage der Paul-Moor-Schule ist somit nicht mehr viel hinzuzufügen: "Sie sind über ihren Schatten gesprungen, haben gewagt und haben dabei gewonnen – in jeder Hinsicht."

In der Paul-Moor-Schule spüren sie, dass sich etwas verändert hat. Seit den acht Tagen in Nazaré.

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