Polizei observierte über Wochen

RAF-Terroristin in Nürnberg: Linksextreme Organisation fand Unterschlupf in St. Peter

Alexander Brock

Lokales

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28.2.2024, 10:58 Uhr
Die Polizei riegelte am 4. Mai 1979 den Stadtteil St. Peter ab.

© Peter Vrbata Die Polizei riegelte am 4. Mai 1979 den Stadtteil St. Peter ab.

Spätabends kommt sie in Nürnberg an. Sie nennt sich Frau Friedrichs und hat eine lange Reise mit dem Zug hinter sich. Es ging von Frankfurt über Stuttgart nach München und dann nach Nürnberg. Für niemanden sichtbar, trägt die 28-Jährige eine Schusswaffe bei sich: eine großkalibrige belgische FN (Fabrique Nationale Herstal). Um ihre Schultern unter dem beigen Trenchcoat hängt ein Patronengurt mit Dum-Dum-Geschossen, Munition, die verheerende Verletzungen hinterlässt.

Es ist Freitag, der 4. Mai 1979. Frau Friedrichs steigt nach 21.30 Uhr in einen Linienbus der VAG Richtung Zerzabelshof. Der Bus rollt durch St. Peter, kurz vor der Haltestelle "Cramergasse" drückt sie den "Halt"-Knopf. Die Türen springen auf, sie steigt aus. Die Haltestelle liegt direkt am Wohnhaus, Stephanstraße 40, in dem sie Ende Januar ein kleines Apartment angemietet hat. Es sind nur fünf bis zehn Schritte, dann steht sie vor der Türe. Sie schließt auf, huscht in den ersten Stock, schiebt den Schlüssel in den Schließzylinder der Wohnungstüre und dreht ihn um.

Polizisten kontrollierten alle Personen, die im Umfeld des Terroristen-Unterschlupfs waren.

Polizisten kontrollierten alle Personen, die im Umfeld des Terroristen-Unterschlupfs waren. © Peter Vrbata

Offenbar rechnet sie zu jeder Zeit mit einem Angriff. Wie aus Polizeiakten hervorgeht, ist ihre "FN 9 Millimeter" auch in diesem Moment geladen und entsichert. Sogar der Schlagbolzen ist gespannt. Sie ist in Hab-Acht-Stellung, betritt den Flur und stellt in Sekundenbruchteilen fest: Sie ist nicht alleine. "Hände hoch, Polizei!" Die 28-Jährige zieht ihre Waffe, doch noch ehe sie abdrückt, lösen sich zwei Schüsse, die sie in Oberschenkel und Rücken treffen.

Notarzt und Rettungsdienst rücken jetzt an, auf dem nahen VW-Krauss-Gelände warteten sie auf ihren Einsatz. Auch Streifenwagen und Einsatzbusse der Polizei stehen auf dem Areal und bekommen grünes Licht. Von jetzt an ist der Stadtteil für Stunden im Ausnahmezustand und wird abgeriegelt. Eine Großfahndung läuft an. Auf dem Weg ins städtische Klinikum klärt sich die wahre Identität der lebensgefährlich verletzten Frau auf, die gefälschte italienische, französische und deutsche Pässe bei sich hatte: Es ist Elisabeth von Dyck, eine Top-Terroristin der RAF. Um 23.15 Uhr erlag sie im Krankenhaus ihren Verletzungen.

Von Dyck, eine gelernte Arzthelferin, war die Wohnungsbeschafferin der Roten Armee Fraktion. Sie organisierte auch Fahrzeuge, Waffentransporte, plante und beteiligte sich an Anschlägen. Das gemietete Apartment in St. Peter diente als Terroristen-Unterschlupf. Wer hier ein und aus ging, hatte die Kripo schon vor dem Zugriff am 4. Mai anhand von Fingerabdrücken in der Wohnung festgestellt: Christian Klar, Rolf Heißler, Adelheid Schulz, Monika Helbing und Werner Lotze. Auf das Konto der Gruppe gingen etwa Attentate auf den Bankier Jürgen Ponto, Generalbundesanwalt Siegfried Buback sowie Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und Begleiter.

Rückblick: Die Ermittler waren den Terroristen seit dem 16. April 1979 in Nürnberg auf der Spur. An diesem Montag hatten zwei Frauen und zwei Männer die Schmidt-Bank an der Lorenzkirche überfallen. Um 8.09 Uhr drangen die Gangster in die Filiale ein, hielten mit großkalibrigen Waffen vier Kunden und 16 Mitarbeiter in Schach und erbeuteten in weniger als einer Minute 210.000 Mark. Mit dem Fluchtauto fuhren sie ein paar Hundert Meter weiter auf die Insel Schütt, ließen den Peugeot stehen und stiegen dort in einen anderen Wagen um. Die Art des Überfalls trug nach Ansicht der Fahnder die Handschrift von Terroristen — da war sich auch der damalige Generalbundesanwalt Kurt Rebmann sicher und beauftragte das bayerische Landeskriminalamt, die Spur in diesem Fall weiterzuverfolgen. Eine Sonderkommission aus Münchner und Nürnberger Beamten nahm daraufhin die Arbeit auf.

"Hinter dem Fenster gelauert"

Veröffentlicht wurde natürlich auch das Kennzeichen und der genaue Typ des Fluchtfahrzeugs. Und tatsächlich erinnerte sich eine Anwohnerin in der Stephanstraße, diesen Wagen vor dem Banküberfall im Hof ihres Wohnhauses gesehen zu haben. So kamen die Ermittler auf das konspirative Apartment. Das Haus wurde observiert. Zu diesem Zweck stellte die Polizei einen Bauwagen in der Nähe des Wohnhauses auf. Unauffällig verhielten sich die Beamten allerdings nicht. Selbst spielende Kinder wurden auf den seltsamen Anhänger aufmerksam, in dem Männer saßen und offensichtlich nichts zu tun hatten. Die Nürnberger Nachrichten zitierten einen Jungen mit den Worten: "Da saßen Tag und Nacht Männer drin und haben hinter dem kleinen Fenster gelauert."

In den folgenden Nächten drangen Polizeibeamte in die leere Wohnung in der Stephanstraße 40 ein und sicherten Beweise: Fingerabdrücke in der Küche und am Waschbecken, Schriftstücke, Kleidung und Geldscheine. Von da an war der Unterschlupf der Terroristen rund um die Uhr von drei Beamten besetzt, die regelmäßig abgelöst wurden. Es waren Angehörige des Münchner Spezialeinsatzkommandos (SEK), die hier angespannt auf von Dyck & Co. warteten.

Nach wenigen Sekunden fallen die Schüsse

Wie aus den Akten auch hervorgeht, sind die drei SEK-Beamten am Abend des 4. Mai 1979 bereits fünf Stunden lang in der Eineinhalbzimmerwohnung gesessen, als die Terroristin sich der Wohnung nähert. Nichts deutet zu diesem Zeitpunkt vor der Haustüre auf ein Großaufgebot an Einsatzkräften hin, das Minuten nach den tödlichen Schüssen in Gang kommen wird. Es ist ruhig, der Linienbus schließt die Türe und röhrt weiter die Stephanstraße hinunter. Die Observationskräfte werden nervös, nehmen per Funk Kontakt zu ihren Kollegen in der Wohnung auf und informieren sie über die Ankunft einer verdächtigen Person. Es vergehen nur wenige Sekunden, dann fallen die Schüsse.

Was die Sicherheitsbehörden aber später als Erfolg feierten, provozierte in der Öffentlichkeit harsche Kritik. Denn die anschließende Großfahndung mit Straßensperren, Fahrzeug- und Personenkontrollen war selbstverständlich so angelegt, dass der Polizei auch die anderen untergetauchten Terroristen ins Netz gehen, sofern sie sich in Nürnberg überhaupt aufhielten. Doch die Hoffnung, in dieser Nacht der Terrorgruppe weitere empfindliche Schläge zu verpassen, verblasste mit jeder Minute. Nach der Schießerei dauerte es mehr als drei Stunden, ehe das Landeskriminalamt in München "Landesalarmfahndung" anordnete. Erst um 1.45 Uhr gab die bayerische Grenzpolizei das Stichwort "Grüne Grenze" aus. Das hieß, jeder, der an bayerische Grenzstationen ankommt, wird kontrolliert. Genügend Zeit also, sich aus dem Staub zu machen.

Kritik hagelte es auch am Einsatz selbst. Der damalige Nürnberger Polizeipräsident Helmut Kraus wurde nicht nur einmal mit der Frage konfrontiert, warum von Dyck erschossen und nicht festgenommen wurde. Die SEK-Beamten in der Wohnung trugen schusssichere Westen und richteten ihre Waffen auf die eintretende Person. In einem Spiegel-Interview antwortete Kraus: "Die Beamten wussten, sie würden es mit Leuten zu tun bekommen, die zum harten Kern der Top-Terroristen zählen, die sich nach allen bisherigen Erkenntnissen einer Festnahme, wenn irgend möglich, entziehen und ohne Hemmungen sofort von der Schusswaffe Gebrauch machen würden." Elisabeth von Dyck habe aber statt, wie aufgefordert, die Hände hochzunehmen, zum Holster ihrer Waffe gegriffen.

War die Firma Diehl das Ziel?

Dass die einstige konspirative Wohnung genau gegenüber dem Diehl-Werk lag, war aus Sicht von Terror-Spezialisten kein Zufall. Das Unternehmen stellte Geräte für Regler und Messtechnik her — auch für die Bundeswehr. Der Name Karl Diehl soll neben zahlreichen Prominenten aus Wirtschaft und Politik in den Notizen der Terroristin gefunden worden sein. Den Verdacht, dass der Firmen-Chef Ziel der RAF gewesen war, wiesen der Polizeipräsident und der Sprecher von Diehl als Spekulation zurück.

Bis heute hängen aber Video-Kameras an der Hauswand der Stephanstraße 40. Ein Fokus ist sogar direkt auf die Haustüre gerichtet, durch die Elisabeth von Dyck am Abend des 4. Mais schritt.

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