Vor S-Bahn geschubst: Prozess gegen zwei 18-Jährige hat begonnen

14.11.2019, 14:36 Uhr
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit startete der Prozess um die mutmaßlichen S-Bahn-Schubser vor der Jugendkammer I.

© Stefan Hippel, NNZ Unter Ausschluss der Öffentlichkeit startete der Prozess um die mutmaßlichen S-Bahn-Schubser vor der Jugendkammer I.

Das Jugendstrafverfahren gegen zwei mutmaßliche S-Bahn-Schubser (beide zum Tatzeitpunkt 17 Jahre) hat hinter den verschlossenen Türen der Jugendkammer I des Landgerichts Nürnberg-Fürth begonnen. Am Morgen ist der Medienandrang enorm, acht Kamerateams drängen sich kurz vor Prozessbeginn um 9 Uhr vor der Richterbank, im Anschluss wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen.

Dieter Weidlich, der erfahrene und langjährige Vorsitzende der Jugendkammer ergreift das Wort: "Bevor es losgeht und unabhängig vom Verlauf der Verhandlung, ein Wort an die Familien: Es ist ein schreckliches Geschehen, das zum Tod ihrer Söhne führte. Wir können nachvollziehen, wie es Ihnen geht. Wir wollen uns erlauben, Ihnen unsere Anteilnahme auszusprechen." Seinen Worten schließen sich die Staatsanwältin und die Verteidiger an.

Das Drama vom 26. Januar 2019 begann um 0.10 Uhr auf dem Treppenaufgang zur S-Bahn-Station Frankenstraße: Die U-18-Party im Club "won" war zu Ende, die jugendlichen Nachtschwärmer traten ihren Heimweg an, darunter auch Frederik Wilke und Luca Ballmann; die beiden 16-Jährigen aus Heroldsberg haben an jenem Bahnsteig ihr Leben verloren. Frederik stieg den Treppenaufgang zum Gleis hoch, als hinter ihm einer an seinen Rucksack fasste.

Zehn Monate später ist von jenem Griff an den Rucksack in der Jugendkammer I des Landgerichts die Rede – denn die Szene markiert den Beginn des Dramas am Bahnsteig. Frederik und Luca waren in Heroldsberg als Ministranten aktiv, sie spielten von Kindesbeinen an beim Turn- und Sportverein Fußball – und auch an jenem Abend besuchten sie den Club "won" gemeinsam mit ihrer großen Clique aus Heroldsberg.

Und so blieb der Griff zum Rucksack nicht unbemerkt: Während einige Jugendliche noch die Treppe hinauf liefen, lehnten andere oben am Geländer, blickten hinab und trauten ihren Augen nicht – ein dreister Versuch zu stehlen?

Schubserei mit tragischen Folgen

Es gibt ein Überwachungsvideo vom Bahnsteig von jener Nacht. Und so ist zu Prozessbeginn, im Großformat auf einer eigens aufgebauten Leinwand, im Sitzungssaal zu sehen, wie der mutmaßliche Dieb auf sein Verhalten angesprochen wurde. Über das Treppengeländer hinweg entwickelte sich eine Schubserei – es waren ausgerechnet Luca Ballmann und Frederik Wilke, die versuchten, zu schlichten. Die Stimmung war hitzig, und weil sich die Szenen ausgerechnet in dem schmalen Bereich zwischen dem Bahnsteigrand und dem Treppengeländer abspielten, wurde die Situation brandgefährlich.

Um 0.13 Uhr, so hält es die Anklage fest, stießen zwei junge Männer mit ihren Händen Frederik Wilke in den Rücken – er stürzte nach vorne in das Gleisbett, Luca Ballmann und ein dritter junger Mann (er gehört nicht zu dem Heroldsberger Freundeskreis) wurden mitgerissen, er konnte sich retten. Frederik Wilke und Luca Ballmann wurden von einem Personenzug, dieser raste außerplanmäßig und ohne Halt durch den S-Bahnhof, erfasst. Auf dem Überwachungsvideo sind bereits seine Lichter zu sehen, doch nur eine der drängenden Fragen lautet, ob die Jugendlichen am Bahnsteig diesen Zug überhaupt wahrgenommen haben.

Familien suchen die Öffentlichkeit

Die Tragödie erregte und entsetzte Menschen im ganzen Land und doch wird all dies nicht öffentlich erörtert. Justizsprecher Friedrich Weitner ist als Zuschauer zugelassen, doch aus Gründen des Jugendschutzes bleibt die Tür der Jugendkammer I des Landgerichts Nürnberg-Fürth für die Öffentlichkeit versperrt, und deshalb werden auch in dieser Zeitung die echten Namen der Angeklagten nicht genannt. Ist es im Interesse des Opferschutzes, die Namen von Lucas Ballmann und Frederik Wilke öffentlich preiszugeben? Es sind ihre Familien selbst, die die Öffentlichkeit suchen: Bereits im Juli hatten Georg Ballmann und Björn Wilke, die Väter der toten Jugendlichen, das Gespräch mit unserer Zeitung gesucht.


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Ihr Antrieb: die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth wertet in ihrer Anklage die Tat als Körperverletzung mit Todesfolge, eine rechtliche Wertung, die die Väter nicht nachvollziehen können. Riskiert nicht jeder, der einen anderen in ein Gleisbett stößt, dessen möglichen Tod? Damit kein falscher Eindruck entsteht: Eine juristische Einordnung wollen sich die Familien Ballmann und Wilke gar nicht anmaßen, auch zu Prozessbeginn betonen sie, offen beobachten zu wollen, wie dieses Verbrechen am Ende bewertet werden wird.

Sie hatten sich damals auch deshalb öffentlich zu Wort gemeldet, um sich von pauschaler Hetze gegen Ausländer zu distanzieren – denn vor allem im Internet missbrauchten Populisten das Verbrechen für Hassreden. Seit dem Vorfall sitzen die beiden Angeklagten in U-Haft. Sie wurden hier geboren und haben die deutsche Staatsangehörigkeit, doch ihre Familien stammen aus Griechenland und der Türkei.

Für den Hauptangeklagten war es ein Missverständnis

Um ihrer Söhne zu gedenken, ein friedliches und gewaltfreies Miteinander zu fördern, haben die Eltern die "Frederik und Luca-Stiftung" gegründet, über die Tragödie haben sie als Gäste bei Stern TV gesprochen, nun lassen sich die Familien während der schweren Zeit des Strafverfahrens von einem Kamera-Team außerhalb des Gerichtssaals begleiten. Auch seinen Mandanten, so betont Anwalt Philipp Schulz-Merkl, lassen die Bilder vom Bahnsteig nicht mehr los. Mehmet K. habe bereits aus der U-Haft Briefe geschrieben und Reue bekundet, zu Prozessbeginn wiederholt er seine Entschuldigung für eine Tat, die nicht zu entschuldigen ist.

Aus Sicht von Mehmet K., er gilt als Hauptangeklagter, begann das Drama mit einem Missverständnis. Er will damals gesehen haben, dass ein Reißverschluss von Frederiks Rucksack offen stand. Er habe ihn schließen wollen, lässt er über seinen Strafverteidiger vortragen. Er feiert am Donnerstag, an dem Tag, an dem der Prozess gegen ihn beginnt, seinen 18. Geburtstag. Sein Mitangeklagter Kirian D. (Verteidiger: Sven Oberhof, Markus Wagner) wurde im Oktober in der U-Haft volljährig.

Über seinen Anwalt Sven Oberhof lässt Kirian D. erklären, dass er sich "aufrichten entschuldigen" wolle, "das Leid der Familien" gerne mildern würde, wenn es nur ginge. Er habe damals einen Freund aus dem Getümmel ziehen wollen, wurde bedrängt und habe eine Person "spontan weggeschubst". Es sei richtig, dass ihm klar war, dass jemand ins Gleisbett fallen könnte, er habe aber nicht an einen Zug gedacht. Kirian D. steht auf, und entschuldigt sich erneut.

Mehmet K. sei kein Schläger, sagt Anwalt Schulz-Merkl, der Tod der beiden 16-Jährigen erlebt natürlich auch er als schreckliche Tragödie. Und doch geriet Mehmet K. schon früher ins Visier der Justiz – Diebstahl und Sachbeschädigung brachten ihm bereits Ende 2016 und Mitte 2017 einen Freizeitarrest ein, auch musste er Arbeitsstunden leisten. Schert sich Mehmet K. nicht um Regeln? Oder sind diese Vorbelastungen als Bagatelle, als jugendtypische Verfehlung zu begreifen?

Absturz durch zu harte Urteile

95 Prozent aller männlichen Jugendlichen werden mindestens ein Mal kriminell, sagt die Dunkelfeldforschung – die wenigsten werden erwischt und dies ist wohl auch gut so. Denn: Wer in seiner Jugend ein Nichtsnutz ist, wird noch lange nicht zum Berufskriminellen. Umgekehrt könnten zu harte Urteile durchaus dafür sorgen, dass junge Delinquenten trotzig in die Kriminalität abstürzen. Die Aufgabe des Jugendstrafrechts liegt gerade deshalb auch darin, den Jugendlichen für die Gesellschaft zurück zu gewinnen.

Verteidiger Schulz-Merkl hält Mehmet K. nicht für einen angehenden Berufskriminellen. Der 18-Jährige sei ein einfach strukturierter junger Mann, der, wie die anderen Jugendlichen auch, in jener Nacht, aufgewühlt vom Disco-Besuch, am Bahnsteig stand. Heute, so der Rechtsanwalt, können sich die Prozessbeteiligten das Video vom Bahnsteig – es ist aus der Vogelperspektive gefilmt – zigmal ansehen. Man könne den Film stoppen und einzelne Bilder betrachten. Doch am 26. Januar 2019, um 0.13 Uhr habe sein Mandant nicht den Überblick gewahrt und die Szenerie von oben betrachtet. Er sei mitten im Gewühl gewesen und habe geschubst. An die Folgen habe er nicht gedacht.

Das Jugendstrafverfahren wird fortgesetzt, das Urteil wird voraussichtlich am 20. November gesprochen.