„Und plötzlich war diese Angst einfach weg“ Wenn sich der Himmel ein Stück weit öffnet

22.1.2017, 20:04 Uhr
„Und plötzlich war diese Angst einfach weg“ Wenn sich der Himmel ein Stück weit öffnet

© Wolfgang Noack

"Es war im Frühjahr 1944. Da sind bei uns zu den polnischen Zwangsarbeitern auch noch die russischen Soldaten gekommen. Und die haben dann bei uns ziemlich geräubert. Und sie kamen dann auch nachts zu den Frauen. Sie hauten nicht die Haustüren kaputt, sondern sie wussten ganz genau, dass die Stalltüren offen waren. Meistens waren die Ställe ja angebaut ans Haus. So, und dann kamen die da rein. Und so war es da auch. Ich habe gehört, dass sie kamen, denn die eine Tür, die mussten sie aufschließen, und das hat Krach gemacht, und da wusste ich, was los war. Und da blieb mir nichts anderes übrig als aus dem Fenster zu springen. Und das habe ich dann auch gemacht.

Raus auf den Kirchhof

Und hinten hatten wir neben dem großen Garten noch so einen Auslauf für die Viecher. Und da bin ich raus. Und dann bin ich auf den Kirchhof gelaufen und dann – ja wo läufst du denn jetzt bloß hin? Und dann bin ich unter diesen Baum da gekrochen. Das war eine große Tanne. Die unteren Äste waren alle leer, die waren abgestorben. Das fing dann erst etwas höher an. Und da unten habe ich mich hingesetzt. Keine zwei Meter beim Baum ging der Fußweg auf diesem Kirchhof vorbei. Und dann kamen auch schon welche vorbei. Es war mondhell. Ganz heller Mondschein. Und ich im weißen Nachthemd. Ich kann es nicht sagen, was mich da hingeführt hat. Ich bin einfach da druntergekrochen. Und sie sind da direkt vorbeigegangen und haben sich auch noch eine Zigarette angezündet. Zuerst habe ich gezittert und geheult und gedacht: Was machste bloß, was machste bloß?

Und plötzlich war diese Angst weg. Und dann habe ich gedacht: Oh, es ist, als wenn ich unter einer Glocke, unter so einer Glashaube sitzen würde, und keiner kann mich sehen. Drum sag ich: Es war, als wenn ich etwas übergestülpt kriege. Heller Mondschein, ich hatte ein weißes Nachthemd an. Man hätte mich sehen müssen! Und die waren ja darauf aus, dass sie Frauen fangen wollten. Aber sie haben mich nicht gesehen! Ich wurde ganz ruhig, und ich konnte später auch ganz ruhig nach Hause gehen.

„Das war ein Wendepunkt“

Ab diesem Moment war mein ganzes Leben anders. Ich hatte keine Angst mehr. Ich hatte gar keine Angst mehr. Vorher habe ich immer gedacht: Schaffste das? Und was machste, wenn das und das ist? Aber danach war das weg. Mit einem Mal war das weg. Das war ein großer Wendepunkt. Da haben sich auch viele gewundert und haben gesagt: „Du hast dich aber sehr verändert. Du hast ja gar keine Angst mehr!“

Der Pfarrer ist dann gekommen und dem habe ich das erzählt. Und der sagte dann: „Das wird dich aber sehr prägen, dieses Erlebnis.“ Und immer wenn ich zu Hause war, habe ich diese Tanne gesehen und habe dann ganz kurz gebetet.“

Da war nur dieses eine Ei. Es war schon kaputt, und trotzdem kann sich Helga M. bis heute daran erinnern, wie sie es mit ihrem Bruder und acht weiteren Familienmitgliedern und Freunden gegessen hat. Mehr als ein Bissen kann da nicht übrig geblieben sein für den Einzelnen, und doch hat die heute 75-Jährige diese Mahlzeit nicht vergessen. Denn an diesem Tag im Frühjahr 1945 hatte ihr Vater, der im Krieg gewesen war, per Zufall seine in den Bayerischen Wald geflüchtete Familie wiedergefunden. Er lief mit einem anderen Soldaten ausgerechnet über die Wiese, auf der gerade seine Kinder spielten. „Ich denke, wir sind da geleitet worden von einer guten Seele, von einem Schutzengel, von Gott“, sagt Helga M. heute. Doch gleichzeitig hat sie aus jener Zeit, in der ihre Familie mit einer Handvoll Kartoffeln pro Tag auskommen musste, auch das gemeinsam verspeiste Ei noch genau im Gedächtnis.

Ihre Geschichte ist eine von insgesamt 18, die die beiden Pfarrerinnen Julia Arnold und Sonja Dietel in sechs Nürnberger Senioreneinrichtungen gehört und aufgeschrieben haben. Erzählt haben sie drei Männer und 15 Frauen, 57 bis 92 Jahre alt, weil sie von einem ganz besonderen Moment in ihrem Leben handeln. Es sind Geschichten von sich spät noch erfüllenden Kinderwünschen, von schweren Krankheiten, die glücklich überstanden wurden, von Nahtoderfahrungen und immer wieder auch vom Krieg.

Ein Kriegserlebnis war es auch, das den Anstoß zu der Ausstellung gab. Die 87-jährige Martha M. hatte in einem Bibelkreis davon erzählt, wie sie 1944 nur knapp einem Überfall entgangen war. Ihr Bericht habe auch bei den anderen Mitgliedern der Runde etwas ausgelöst, sagt Sonja Dietel. Deshalb sei die Idee entstanden, weitere Lebenserinnerungen zu sammeln. „Es war alles sofort da: Der Titel, das Thema und das Bild von der Leiter.“

Mit dieser Leiter nämlich, die symbolisch in den Himmel führt, hat der Fotograf Wolfgang Noack die Erzählenden für die Ausstellung in Szene gesetzt. Dieses Leitmotiv soll auch für die Besucher ein Anstoß sein, über ähnliche Erfahrungen im eigenen Leben nachzudenken. Dietel und Arnold, die anfangs von ihrer Kollegin Annette Lechner-Schmidt unterstützt wurden, haben deshalb ein Gästebuch ausgelegt. Viele der Befragten blicken aus Sicht der beiden Pfarrerinnen „mit sehr viel Weisheit“ auf ihr Leben zurück. „Davon können wir alle etwas lernen.“

Mit dem Projekt verfolgen die beiden Frauen aber noch ein weiteres Ziel: Sie wollen „Kraft und Ressourcen“ der Älteren sichtbar machen und den Jüngeren ihre Berührungsängste gegenüber den Heimen nehmen. Denn viele Menschen machten in jüngeren Jahren noch einen großen Bogen um die Pflegeeinrichtungen, so Dietel. „Dabei können die Heime ein sehr schöner Ort sein.“ Die beiden Seelsorgerinnen arbeiten dort auch mit Demenzkranken, „eine neue Herausforderung“ vor allem für die Gestaltung von Gottesdiensten, wie Arnold sagt. Die Projektteilnehmer dagegen sind geistig fit. Ihre Erzählungen haben auch die beiden Pfarrerinnen berührt. Julia Arnold ging vor allem die Geschichte des geteilten Eis zu Herzen, das dem Kind damals fast wichtiger zu sein schien als der wiedergefundene Vater. „Da habe ich“, sagt die 40-Jährige, „begriffen, was Hunger bedeutet.“

 

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