Unter Trümmern begraben

26.9.2007, 00:00 Uhr
Unter Trümmern begraben

© Archiv

Den neunjährigen Jungen hatte man mit einer schweren Verletzung in das Spezialkrankenhaus (damals am Rennweg) eingeliefert. Durch einen Unfall war ein Auge mit Kalk verätzt worden. Die Diagnose des Arztes war bitter: Das Sehorgan muss entfernt werden, bereits am nächsten Tag sollte die Operation stattfinden. Der Bub bekam das Gespräch zwischen dem Mediziner und seinen Eltern mit, die nachgehakt hatten, ob es nicht doch noch eine Alternative gebe. Aber aus Sicht des Arztes war die Entscheidung klar.

Nachts gegen 23 Uhr hörte der kleine Otto plötzlich die Sirenen des Fliegeralarms. Mit den anderen Patienten und dem Klinikpersonal eilte er in den Luftschutzbunker im Keller. Kurze Zeit später zitterten bereits die Wände und den etwa 60 Eingeschlossenen wurde klar, dass das Krankenhaus von Bomben getroffen worden war. «Einige wollten beten, aber die Luftschutzwarte haben uns verboten zu sprechen», erinnert sich der heute 72-Jährige, «sie meinten, dass die Luft zum Atmen sonst nicht mehr reichen würde.»

Beklemmend und beängstigend war die Atmosphäre im Schutzraum: Nach dem Einsturz des Klinikgebäudes staubte es in den unterirdischen Raum herein, nur der matte Schein von Taschenlampen erhellte das Dunkel. Trotzdem geriet Otto Mehl nicht in Panik oder Todesangst: «Ich war so erschöpft, dass ich einfach eingeschlafen bin.»

Etwa 15 Stunden später hörten die Eingeschlossenen das Kratzen von Schaufeln - die Rettung kam. Russische Kriegsgefangene gruben die Verschütteten aus. «Ich war glücklich, dass es mich nicht erwischt hat», fasst der Rentner rückblickend seine Gefühle zusammen, «und ich hatte den Eindruck, dass die Russen sich auch freuten, uns noch lebendig gefunden zu haben.»

Nun hatte der neunjährige Bub ein weiteres Mal unglaubliches Glück: Als er sich gerade auf den langen Heimweg machen wollte, wurde er zurückgerufen, weil man feststellte, dass er außerhalb des Nürnberger Stadtgebiets in Röthenbach/St. Wolfgang wohnte. «Genau in diesem Moment hat es auf der Straße einen Riesenschlag getan, weil eine Sprengbombe verspätet detoniert ist», erinnert sich Mehl, «einem Radfahrer riss es dabei den Kopf ab.»

Der Schüler wurde schließlich von seiner älteren Schwester mit dem Fahrrad abgeholt. Über zwei Stunden brauchten sie für den Rückweg, der sie unter anderem durch die Allersberger Straße führte - dort brannten die Häuser lichterloh. Dieses Bild hat der einstige Bauingenieur, der in seinem Berufsleben übrigens auch einige Bunker für die Telekom errichtet hat, heute noch vor sich.

Auf Nachfrage der Lokalredaktion im Stadtarchiv kann nun der Zeitpunkt exakt benannt werden: Die Maximilians-Augenklinik wurde am 31. März 1944 zerstört wie auch die Norishalle, die LGA und die Reichsbank. Am Hauptbahnhof gab es ebenfalls etliche Treffer. Bei dieser Luftattacke der britischen Royal Air Force kamen 74 Menschen ums Leben, weitere 122 Personen wurden verletzt. «Es war einer der Großangriffe auf Nürnberg», berichtet Michael Diefenbacher, Leiter des Stadtarchivs. Dabei zerstörte die mörderische Bombenfracht auch 130 Gebäude total und 1243 weitere Häuser teilweise.

Für Otto Mehl war das genaue Datum wichtig, weil er es in seinen selbst geschriebenen Lebenslauf einfügen will: «Das Ereignis selbst habe ich nie vergessen, den Tag schon.» Übrigens: Sein schwer geschädigtes Sehorgan hat er letztlich behalten. Ein anderer Facharzt riet, es ausheilen zu lassen, auch wenn er darauf nur mehr 20 Prozent Sehkraft besitzt.