Straßenidyll mitten in der Großstadt

Vom Saustall zum In-Viertel: Ein Rundgang auf dem Kieselberg in Nürnberg-Rosenau

16.8.2022, 11:04 Uhr
Die Untere Kieselbergstraße zeigt noch heute sehr anschaulich, wie die Gassen des Quartiers vor rund einem Jahrhundert ausgesehen haben – ohne Autos, versteht sich.

© Sebastian Gulden Die Untere Kieselbergstraße zeigt noch heute sehr anschaulich, wie die Gassen des Quartiers vor rund einem Jahrhundert ausgesehen haben – ohne Autos, versteht sich.

Bei seinen Forschungen sieht sich der Bau- und Kunsthistoriker die Stadt gerne mal von oben an, im Karten- oder Satellitenbild. So vermag er am leichtesten auffällige Strukturen zu erkennen, die wie ominöse Kornkreise inmitten des urbanen Gefüges aufleuchten.

Zugegeben: "Kornkreis" ist eine etwas ungeschickte Metapher, zumindest wenn man von den beiden Kieselbergstraßen im Südwesten der Rosenau spricht. Die sind nämlich kerzengerade und parallel zueinander trassiert. Zweimal gut 150 Meter Straße, die Ränder bebaut mit kleinen, ein- bis zweigeschossigen Häuschen, die so gar nicht in die hoch aufragende, vergleichsweise massige Bebauung aus Wohn- und Geschäftshäusern rundum passen. Wie kam’s dazu?

1924 war aus dem früheren Stall Untere Kieselbergstraße 16 ein schmuckes Vorstadtmietshaus mit einfacher, aber wohlgestalteter Putzfassade geworden (links). Die letzten 98 Jahre hat man die Hausfassade immerhin nicht verunstaltet, auch wenn die lochartigen Fenster und die geflammten „Pisskacheln“ ihr keinen Gefallen tun (rechts).  

1924 war aus dem früheren Stall Untere Kieselbergstraße 16 ein schmuckes Vorstadtmietshaus mit einfacher, aber wohlgestalteter Putzfassade geworden (links). Die letzten 98 Jahre hat man die Hausfassade immerhin nicht verunstaltet, auch wenn die lochartigen Fenster und die geflammten „Pisskacheln“ ihr keinen Gefallen tun (rechts).   © unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)/Sebastian Gulden

Reisen wir gemeinsam zurück in die letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts. Vom Plärrer blicken wir nach Nordwesten auf weite Feuchtwiesen und den heute zugeschütteten Säuweiher. Es "schweindelt", und zwar kräftig! Das Düftchen kommt von einer eigentümlichen Gruppe aus eng aneinandergebauten, traufständigen Fachwerkgebäuden mit Satteldächern, zwischen denen ein von Toren begrenzter, kerzengerader Weg hindurchführt – die heutige Untere Kieselbergstraße.

Zwei Brunnen versorgen Tier und Mensch mit frischem Wasser. Es sind die "Schweinstell" der Nürnberger Bäcker, die weiland der Maler Paulus Reinhard und der Formschneider Stefan Gansöder auf ihrem "Rundprospekt der Nürnberger Landwehr" verewigten.

Niedrige Bauten, damit das Tageslicht bleibt

Was die Darstellung nicht zeigt: Die Ställe lagen auf einer kleinen Anhöhe, dem Kieselberg. Wer auf dem südlichen Ast der Rosenau- oder der Bleichstraße unterwegs ist, bemerkt den Anstieg des Geländes zur Fürther Straße hin noch heute – trotz der dichten Bebauung. Die setzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Stall um Stall machten die Eigentümer zu (meist ziemlich einfachem) Wohnraum für Handwerker-, Arbeiter- und Tagelöhnerfamilien.

Um die vorletzte Jahrhundertwende gab es am Kieselberg keinen einzigen Saustall mehr, abgesehen vielleicht von dem ein oder anderen Kleintierstall, den die Bewohner in ihren Höfen und Gärten betrieben. Und auch die Bauten von einst waren kaum wiederzuerkennen. Was geblieben ist, sind die kleinteiligen Strukturen, das Kopfsteinpflaster und die niedrigen Traufhöhen, denn die Stadt verbat frühzeitig eine exzessive Nachverdichtung in die Höhe, damit die Hausbesitzer sich nicht gegenseitig das Tageslicht wegnahmen.

Den Stall, der einst an der Stelle des Hauses Untere Kieselbergstraße 16 stand, ließ die Wirtswitwe Anna Maria Hallbauer 1837 von Maurermeister Conrad Heinrich Schabdach und Zimmermeister Christoph Hösch zu einem Mietshaus mit zwei Zweizimmerwohnungen mit Küche in der Dunkelzone umbauen. Später, vermutlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts, kamen ein zusätzliches Stockwerk mit ausgebautem Satteldach und die einfache klassizistische Fassadenzier hinzu.

Zwischen 1577 und 1581 entstand diese erste bekannte Darstellung der Ställe auf dem Kieselberg. Sie ist Teil des so genannten "Rundprospekts auf die Nürnberger Landwehr".

Zwischen 1577 und 1581 entstand diese erste bekannte Darstellung der Ställe auf dem Kieselberg. Sie ist Teil des so genannten "Rundprospekts auf die Nürnberger Landwehr". © Holzschnitt Stefan Gansöder (nach Paulus Reinhart)

Ihr Nachbar Georg Stephan Meyer ließ die Nr. 19 im Jahr 1853 durch Maurermeister Schabdach und Zimmerer Georg Simon zu einem Einfamilienhaus mit Stallung umbauen. Vor 1867 dann kamen der erste Stock und das wohlproportionierte Zwerchhaus hinzu, dessen Vierpass-Rundfenster im Giebel die Vorliebe der Zeit für die Neugotik widerspiegelt.

Leider kam die Abrissbirne

Andere Grundeigner schoben ihre alten Ställe gleich ganz weg und errichteten in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts neue, wenn auch etwas schematisch anmutende Kleinmietshäuser mit Klinkerfassaden, einfacher Sandsteingliederung und den obligatorischen Mansarddächern, in denen man trotz der festgesetzten Traufhöhe noch mehr Wohnraum "hineinmogeln" konnte. Diese Entwicklung dokumentieren etwa die Anwesen Untere Kieselbergstraße 13 und Obere Kieselbergstraße 12. Vergleichsweise extravagant kommt da die Untere Kieselbergstraße 9 daher, der ihr Baumeister einen lebhaft geschwungene Giebel spendierte.

Die Nachkriegszeit betätigte sich im Viertel – leider – vor allem im Glätten und wenig bedachten Modernisieren, dem so manch reizvolles und erhaltenswertes Detail zum Opfer fiel. Neu hinzu kamen die dreistöckigen Mietshäuser Obere Kieselbergstraße 15 und 17 mit ihren einfachen, aber dekorativen Kunststeinportalen. In den Nachkriegsjahrzehnten, als nahezu jeder, der es sich leisten konnte, in die modernen Vorstädte und Hochhäuser drängte, rutschte der Kieselberg zum "Grattlerviertel" ab.

Grüne Gärten und ein Spielplatz

Die Tage des lauschigen Viertels schienen gezählt. Dann kam 1987 die Ausweisung zum Sanierungsgebiet: Es wurde geplant, gewerkelt, restauriert, neu gepflastert und begrünt. Versiegelte Hofflächen, Kriegsruinen und altersschwache Rückgebäude wichen grünen Gärten und einem Spielplatz. Sogar eine der charakteristischen Brandgassen – auf Nürnbergerisch "Reihlein" genannt – blieb erhalten. Der Kieselberg mauserte sich zum lebenswerten "In-Viertel".

Architektur des späten 19. Jahrhunderts, der 1950er und 1990er Jahre stehen an der Oberen Kieselbergstraße Seit an Seit. 

Architektur des späten 19. Jahrhunderts, der 1950er und 1990er Jahre stehen an der Oberen Kieselbergstraße Seit an Seit.  © Sebastian Gulden

Die Kehrseite der Medaille war allerdings, dass sieben historische Häuser der Abrissbirne zum Opfer fielen: Sie galten nach damaligem Dafürhalten als nicht sanierbar. Dafür ergänzte man das Ensemble um moderne Architektur, die die historischen Strukturen aufgriffen und in zeitgenössischen Formen interpretierten, darunter die Wohnanlage Obere Kieselbergstraße 12–22 und Untere Kieselbergstraße 20.

Durch die Sanierung ist Nürnberg ein ganz besonderes Stück Stadt erhalten geblieben. Ein beschauliches Viertel, das bis heute eine skurrile, manchmal traurige Geschichte zu erzählen hat – vor allem aber ein Viertel, das selbst den größten Muffel mit dem Organismus Großstadt zu versöhnen vermag.

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