Nürnbergs Weststadt vor 100 Jahren

Wie aus dem Ludwigskanal der Frankenschnellweg wurde

26.4.2022, 09:20 Uhr
Eine Stadt wird umgeackert: Blick von der späteren Jansenbrücke gen Nordwesten auf die Baustelle des Frankenschnellwegs im Jahr 1959.  

© Gertrud Gerardi Eine Stadt wird umgeackert: Blick von der späteren Jansenbrücke gen Nordwesten auf die Baustelle des Frankenschnellwegs im Jahr 1959.  

Als 1909 und 1910 die ersten Mieter den "Dianablock" an der Dianastraße in Gibitzenhof bezogen, war die Welt noch in Ordnung. Die seinerzeit hochmodernen Wohnungen lagen sowohl verkehrsgünstig als auch nah an der Natur. Von den Zimmern im Süden, Westen und Norden genossen die Bewohner den Ausblick auf die grünen Ufer des Ludwigskanals, die Kleingärten und Alleen drumherum. Architekt Ludwig Ruff, der den Dianablock im Auftrag der Nürnberger Baugesellschaft für Kleinwohnungen plante, verlieh der Baugruppe malerische Formen mit Anklängen an den Barock.

Den Ludwig-Donau-Main-Kanal, so die offizielle Bezeichnung, gab es zu diesem Zeitpunkt bereits 73 Jahre. Auf Geheiß des bayerischen Königs und Namenspaten Ludwig I. vornehmlich für die Binnenhandelsschifffahrt geplant und ab 1836 nach Planung Heinrich von Pechmanns ausgeführt, sollte er Kelheim und Bamberg auf dem Wasserweg verbinden.

Kanalromantik am Tannenhof in der Gartenstadt, um 1920. Heute verläuft hier an Stelle der Wasserstraße ein Spazierweg.

Kanalromantik am Tannenhof in der Gartenstadt, um 1920. Heute verläuft hier an Stelle der Wasserstraße ein Spazierweg. © Verlag Hans Pickel (Sammlung Sebastian Gulden)

Entlang der mit Haustein-Mauern eingefassten Fahrrinne mit ihren Schleusen und Brücken siedelten sich im Nürnberger Stadtgebiet Ende des 19. Jahrhunderts Industriebetriebe und Lagerplätze an. Der alte Kanalhafen lag zwischen der Gostner Knauerstraße und dem Schlachthof.

Schon 1900 war der Kanal veraltet

Abgesehen vom Dianablock gab es nur wenige Stellen, an denen die Wohnbebauung bis unmittelbar an den Kanal heranreichte. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Bahnstrecke Nürnberg-Bamberg 1843/1844 parallel zum Verlauf des Wasserwegs trassiert wurde. Als man ab 1908 nach Planung von Richard Riemerschmid und der Architektensozietät Lehr & Leubert die Nürnberger Gartenstadt anlegte, setzte man die Reihenhäuser und Höfe an ihrem westlichen Rand in direkte Beziehung zum alten Kanal. Kein Wunder, gehörte die Verbindung von Wohnen und Naturerlebnis doch zu den zentralen Forderungen des Gartenstadt-Visionärs Ebenizer Howard.

Architektur im Reformstil trifft grüne Lunge: der Dianablock kurz nach der Vollendung 1910 vom späteren Standort des Heisterstegs aus gesehen.  

Architektur im Reformstil trifft grüne Lunge: der Dianablock kurz nach der Vollendung 1910 vom späteren Standort des Heisterstegs aus gesehen.   © unbekannt, Sammlung Sebastian Gulden

Das älteste und seiner Lage wegen bekannteste Gebäude, das noch heute besteht, dürfte das 1897 im Auftrag des Gastwirtes Johann Halbig erbaute Eckhaus Pfinzingstraße 1 in St. Leonhard mit seinem markanten Giebel in Formen der Neorenaissance sein. Ein paar Meter weiter Richtung Fürth fristet in der Rosenplütstraße 1 die Villa des Bauunternehmers Josef Schulz, ein malerischer Bau im Heimatstil der Zwischenkriegszeit, ein unwürdiges Dasein zwischen Asphaltwüste, dem Parkplatz einer Muckibude und eines Bürohauses.


Unterwegs mit dem Treidelschiff: Mit einem PS über den alten Ludwigskanal


An der Westseite der Jansenbrücke stehen die zwei einsam aus dem Meer jüngerer Reihen- und Mehrfamilienhäuser herausragenden Jugendstilbauten Möhrendorfer Straße 33 und Herzogenauracher Straße 1, erbaut um 1909 durch das Büro Peringer & Rogler, als Zeugnisse des unerschütterlichen Glaubens an das unentwegte Wachstum der Großstadt, das der Erste Weltkrieg auf Jahre zum Erliegen brachte.

Heute gibt’s Dauerbeschallung und -bestinkung von allen Seiten. Doch der Dianablock, heute ein Baudenkmal, trotzte dem Traum von der "autogerechten Stadt".  

Heute gibt’s Dauerbeschallung und -bestinkung von allen Seiten. Doch der Dianablock, heute ein Baudenkmal, trotzte dem Traum von der "autogerechten Stadt".   © Boris Leuthold

Freistehende Häuser mit Gemüsegärten

Erst ab 1923 schuf die Baugenossenschaft West mit der Wohnanlage an der Wandererstraße in den Formen des Heimatstils mit barocken Anklängen das nächste stadtbildprägende Ensemble an der Kanaltrasse. In der NS-Zeit folgten die Siedlungen aus Einfamilien- und Reihenhäusern, teils mit Selbstversorgergärten, zwischen Fürther und Leyher Straße. Die frühen Anrainer des Kanals hätten sich gewiss kaum träumen lassen, dass ihre Nachfolger einmal hinter einer Schallschutzwand leben würden.

Schon um 1900 hatte sich der 1846 vollendete Ludwigskanal längst selbst überlebt: Von Anfang an für den Schiffsverkehr zu klein bemessen, war er damals bereits weit mehr Erholungsfläche als ein wirtschaftlich bedeutender Wasserweg. "Nasenzeugenberichten" zufolge war der Naturgenuss indes nicht überall ungestört, denn durch den jahrzehntelangen Instandhaltungsstau hatte sich der Kanal an einigen Stellen in einen miefenden Tümpel verwandelt. 1950 kam das offizielle Aus.

Als diese Aufnahme des Alten Kanals im Bereich der Hans-Thoma-Straße um 1950 entstand, war die Fahrrinne (links) bereits trockengelegt.

Als diese Aufnahme des Alten Kanals im Bereich der Hans-Thoma-Straße um 1950 entstand, war die Fahrrinne (links) bereits trockengelegt. © Ansichtskarte Karl Bellingrodt (Sammlung Sebastian Gulden)

Da lag es nahe, dass die Nachkriegszeit satte 40 Kilometer des Kanals zwischen Nürnberg und Erlangen ihrem Ideal der "autogerechten Stadt" opferte. Der "Frankenschnellweg" war geboren. Von 1959 bis 1976 durchzog ein dicker Baustellenwurm das Nürnberger Stadtgebiet.

Hermann Jansen konnte nicht ahnen, was die Moderne mit sich bringt

Die Idee einer Schnellstraße hatte schon Hermann Jansen, als er ab 1921 den Generalbebauungsplan für die Stadt Nürnberg entwarf. Allerdings muss man dem rührigen Stadtplaner zu Gute halten, dass er keine Vorstellung von Verkehrsaufkommen unserer Tage hatte, da sich tagtäglich Abertausende überdimensionierter, stinkender und lärmender Blechkübel mit ihren gestressten Lenkern durch die Stadt schieben.

Diese Präsentationszeichnung von 1960 zeigt die architektonische Qualität der Jansenbrücke. Der Blick auf das Verkehrsaufkommen war indes etwas naiv.  

Diese Präsentationszeichnung von 1960 zeigt die architektonische Qualität der Jansenbrücke. Der Blick auf das Verkehrsaufkommen war indes etwas naiv.   © Gertrud Gerardi

Wer heute hier unterwegs ist, spürt so gar nichts mehr von dem Optimismus der 1920er und 1960er Jahre, als die Planer des städtischen Hochbauamtes die neue Verkehrsader in geradezu futuristischer Sichtweise als Symbol des Fortschritts und der persönlichen motorisierten Freiheit präsentierten.

Außer der Jansenbrücke keine Zier für die Noris

Und jetzt? Seit Jahren diskutiert und streitet Nürnberg darüber, ob der Frankenschnellweg, der – wie einst der Ludwigskanal – der Masse an Fahrzeugen längst nicht mehr gewachsen ist, nicht besser unter die Erde kommen sollte. Kreuzungsfrei, ohne Gelärme und Gestinke obendrüber. Ein Verlust für das Stadtbild wäre das wohl nicht. Allein die 1964 vollendete Jansenbrücke mit ihren kraftvoll geschwungenen Auf- und Abfahrtsrampen darf für sich den Status eines gelungenen Denkmals der Verkehrsarchitektur in Anspruch nehmen.

Der größte Gag zum Schluss: 1960 bis 1992 baute man mit dem Main-Donau-Kanal eine neue künstliche Wasserstraße für die Binnenschifffahrt, für die man wieder die gesamte Landschaft umgrub und die wirtschaftlich bis heute weit hinter den hehren Erwartungen zurückbleibt.

Ganz verschwunden ist der "Alte Kanal", wie ihn die Nürnbergerinnen und Nürnberger nennen, hingegen nicht. In der Gartenstadt und in Worzeldorf kann man die Idylle von einst noch erleben, teils unter Denkmalschutz, aber freilich ohne Schiffsverkehr. Wer an seinen ruhigen Gestaden spaziert, dem mag es dämmern, warum der Traum von der "autogerechten Stadt" längst zum Albtraum geworden ist.

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