Wie sich das Nürnberger Stadtbild radikal veränderte

16.1.2019, 16:44 Uhr
Heute ist das Anwesen im Kirchenweg 10 kaum mehr wiederzuerkennen. Die moderne Blockbauweise hat die lockere alte Bebauung abgelöst.

© Sebastian Gulden Heute ist das Anwesen im Kirchenweg 10 kaum mehr wiederzuerkennen. Die moderne Blockbauweise hat die lockere alte Bebauung abgelöst.

Manchmal geben die Nürnberger Straßennamen selbst Alteingesessenen Rätsel auf. Der "Kirchenweg" in St. Johannis ist so ein Fall. Na, wo ist sie denn nun, die Kirche, nach der die Straße benannt ist? Wer da die etwas abseits gelegene Friedenskirche in Verdacht hat, liegt leider völlig falsch, denn der Kirchenweg ist um Jahrhunderte älter als das erst 1928 eingeweihte Gotteshaus.

Tatsächlich ist die Kapelle auf dem Johannisfriedhof gemeint, vor dessen Mauern die Straße endet. Der Nürnberger Historiker Friedrich Nagel vermutete, dass der Kirchenweg im Laufe des 13. Jahrhunderts entstand und jene Route bezeichnete, die die Leichenzüge aus Groß- und Kleinreuth hinter der Veste bis zur ewigen Ruhe zurücklegen mussten.

Zu jener Zeit waren die Ränder des Kirchenwegs wohl noch nahezu unbebaut. Erst die Industrialisierung brachte über 500 Jahre später den Wandel: Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen dort die ersten größeren Einfamilien- und Mietshäuser in die Höhe.

Johann Konrad Kronauer, von Beruf Maurermeister, sicherte sich 1863 das Grundstück Nr. 10 an der Einmündung der Rückertstraße, die es damals allerdings noch nicht gab. Zusammen mit dem Zimmermeister Johann Michael Hauf errichtete er dort ein Mietshaus, das auf jeder seiner Etagen eine Drei- und eine Vierzimmerwohnung mit Küche besaß.

Stadtnahe Wohnung mit Garten: ein Traum – auch schon anno 1911, als diese Aufnahme vom Anwesen Kirchenweg 10 entstanden ist.

Stadtnahe Wohnung mit Garten: ein Traum – auch schon anno 1911, als diese Aufnahme vom Anwesen Kirchenweg 10 entstanden ist. © unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)

Die gemeinschaftlich genutzten Toiletten lagen in einem Risalit, einem hervorspringenden Gebäudeteil, der an das Treppenhaus angebaut war. Im Hof befand sich ein eingeschossiges Rückgebäude mit Remise und Werkstatt. Georg Birkmann stockte es 1882 im Auftrag der Galvanoplastischen Anstalt Schnabel & Griesbach auf.

Was uns heute als malerisch erscheint, war für damalige Verhältnisse architektonische Hausmannskost: Getreu den Lehren des Klassizismus waren die Fassaden streng achsensymmetrisch gegliedert. An der Südfassade belichtete ein "Zwerchhaus" das ausgebaute Dachgeschoss. Der dezente Schmuck des verputzten Ziegelbaus bestand aus Versatzstücken gotischer und klassizistischer Architektur, wie sie in Nürnberg um 1860 üblich waren.

In den 1920er Jahren kaufte die benachbarte Bleistiftfabrik Staedtler das Haus Kirchenweg 10 und brachte darin den Hausmeister und andere Werksangehörige unter. Im zweiten Stock, der mittlerweile zu einer Etagenwohnung umgebaut worden war, lebten der Chemiker Karl Kreutzer und seine Familie. Als Sohn von Ludwig Kreutzer, der die Fabrik Staedtler 1886 übernommen hatte, war er gemeinsam mit seinen Brüdern Rudolf und Walter Teilhaber der väterlichen Firma.

Im Zweiten Weltkrieg zerschlugen alliierte Fliegerbomben das Dach und das zweite Obergeschoss. Mit Wilhelm Schlegtendal gewann Staedtler 1946 einen der führenden Nürnberger Architekten des Wirtschaftswunders für die Planung des Wiederaufbaus.

Diese Aufnahme von der Westfassade mit den zusätzlich eingehängten Winterfenstern datiert aus dem Jahr 1913.

Diese Aufnahme von der Westfassade mit den zusätzlich eingehängten Winterfenstern datiert aus dem Jahr 1913. © unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)

In der Mangelzeit vor der Währungsreform legten die Mitarbeiter der Bleistiftfabrik beim Bau selbst Hand an, so dass das Eckhaus bald schon wieder erstrahlte – wenn auch in etwas ramponiertem Glanz.

Als aber die Kassen des Unternehmens wieder prall gefüllt waren, ging es dem schönen Wiederaufbau-Gemeinschaftswerk an den Kragen: 1968 räumte man es für ein neues Verwaltungsgebäude ab.

Seitdem beherrscht ein gewaltiger Block mit Rasterfassaden, die sich schon sehr arg mit der malerischen Jugendstil-Architektur weiter östlich beißen, die Ecke Kirchenweg und Rückertstraße. Lange Zeit konnte sich Staedtler an dem modernen Bau auch nicht erfreuen, denn schon 20 Jahre später zog die Firma mit Sack und Pack in den Stadtteil Boxdorf um. Seitdem residiert das Finanzamt Nürnberg-Nord im Haus Kirchenweg 10, das von 2012 bis 2016 nach Plänen des Nürnberger Büros Bär, Stadelmann und Stöcker Architekten saniert wurde.

Heute erinnert am Kirchenweg nichts mehr an das schmucke Vorstadthaus und die traditionsreiche Bleistiftfabrik. Das eine fiel dem Pragmatismus der 1960er, das andere der Flächenkonversion der 1990er Jahre anheim: Nun steht ein gewaltiger Wohn- und Geschäftskomplex auf dem Staedtler-Areal. Manchmal ist der Wandel des Stadtbildes eben äußerst radikal.

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