Auhof-Heimkind wurde Versuchskaninchen wider Willen

11.5.2018, 16:29 Uhr
Auhof-Heimkind wurde Versuchskaninchen wider Willen

© Harry Rödel

Mittwochabend in der BR-Sendung "Kontrovers": Auf dem Bildschirm ist ein 53-jähriger Mann zu sehen, der im Rollstuhl sitzt, sich kaum bewegen kann und über einen Sprachcomputer kommuniziert, den er mühsam mit dem Ellbogen bedient. Er lebt in einer Pflege-WG in Bad Kissingen und sei schwer lungenkrank, ist zu erfahren.

Der Mann heißt Martin Hackl. 1973 kam er als Achtjähriger in den Auhof, weil man sein Sprechen als "zusammenhanglos" bewertete und ihm "erheblichen Schwachsinn" sowie eine "außerordentliche Umtriebigkeit" attestierte, heißt es im BR-Bericht. Wegen letzterer habe er Psychopharmaka bekommen.

Test ohne Einverständnis

1975 wird ihm laut BR-Recherche vom damaligen Auhof-Arzt ein neues Präparat des Pharmaunternehmens Hoechst verabreicht. Sechs Wochen lang. Ein Antidepressivum mit dem Wirkstoff Nomifensin, das erst ein Jahr später unter dem Namen "Alival" auf den Markt kommen sollte und zehn Jahre später wieder zurückgezogen wurde. Es hätte Todesfälle gegeben und die Nebenwirkungen seien zu gravierend gewesen für Leber, Nieren – und Lunge.

Ob Martin Hackls aktueller Zustand eine Spätfolge des Medikamentenversuchs ist, könne heute nicht mehr nachgewiesen werden, so der BR. Fakt sei: Der Test wurde an dem einstigen Heimkind durchgeführt – ohne Einverständniserklärung. Das mache die Akte deutlich.

"Heute nicht mehr möglich"

"Zum Glück wär’ das heute nicht mehr möglich!", sagt Georg Borngässer, Pressesprecher der Rummelsberger Diakonie. Medizinische Intervention ohne Einwilligung der Betroffenen, der Betreuer oder Eltern? "Undenkbar!"

Das kann Auhof-Leiter Andreas Ammon nur bestätigen. Ammon ist seit 1999 am Auhof und seit 2010 Chef der Einrichtung. Er kennt Martin Hackl persönlich. Denn bis 2007 war der noch Bewohner der Hilpoltsteiner Behinderteneinrichtung. Nachdem Hackl nach Bad Kissingen umgezogen war, habe er ihn zweimal besucht, wie Ammon gegenüber der Hilpoltsteiner Zeitung erklärte.

Aufarbeitung durch Wissenschaftler

Erfahren haben die Rummelsberger von dem Medikamententest übrigens durch eine anonymisierte Kopie von Hackls Heimakte, die eine Freundin im Dezember 2017 an einen ehemaligen Mitarbeiter weitergeleitet hatte. Man entschied sich, den Hinweisen nachzugehen. Die Rummelsberger Diakonie will nun einen Wissenschaftler mit der gründlichen Aufarbeitung des Falls und möglichen weiteren Vorkommnissen dieser Art beauftragen, bestätigt Pressesprecher Borngässer.

Weil viele der alten Akten aus Datenschutzgründen vernichtet worden seien, wäre die Quellenarbeit eines Experten gefragt. "Wie viele Betroffene gibt es? In welcher Qualität wurden die Tests durchgeführt? Welche Konsequenzen müssen wir ziehen?" Diese und andere Fragen gelte es zu klären. "Wir wollen ein rundes Bild", erklärt Georg Borngässer.

Nur noch eineinhalb Jahre Zeit

"Was natürlich nicht einfach werden wird", ergänzt Ammon, eben weil ein Großteil der Quellen dem Papierwolf übereignet wurde. Dennoch sei es wichtig, sich der Sache "ganz offen zu stellen". Auch, um die Auhof-Mitarbeiter für das Thema zu sensibilisieren. Damit diese Antennen für Auffälligkeiten entwickeln: "Wenn leidvolle Erfahrungen eine Kindheit geprägt haben, muss das besonders berücksichtigt werden."

Zudem gilt: Der Countdown läuft. Bis 31. Dezember 2019 können Menschen, die als Kinder und Jugendliche zwischen 1949 und 1975 in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie nachweislich "Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an Folgewirkungen leiden", wie es heißt, einen Antrag auf finanzielle Unterstützung bei der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" stellen.

Versprechen statt Entschuldigung

"Sollte sich da jemand an uns wenden, wollen wir vernünftig Auskunft geben können", meint Borngässer. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung sollen deshalb – auch unter dem Blickwinkel der damaligen Zeit – in einem Buch festgehalten werden.

Mittlerweile haben Ammon und Borngässer Martin Hackl auch gemeinsam einen Besuch abgestattet – um sich zu entschuldigen. "Soweit man sich für so etwas überhaupt entschuldigen kann", sagt Borngässer. Und Ammon fügt an, dass "eine Entschuldigung alleine freilich zu wenig" wäre.

Doch Martin Hackl – auch das ist in dem Fernsehbeitrag zu sehen – wollte keine Entschuldigung, sondern ein Versprechen von Auhof-Leiter Andreas Ammon: "Menschen mit Behinderung sollen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen werden", forderte er per Sprachcomputer. Denn dann, so die Quintessenz, wären Schicksale wie das seine erst gar nicht möglich.

Wie viele Heimkinder Medikamententests über sich ergehen lassen mussten? Wo und in welchen Einrichtungen? Martin Hackl hat den Stein in Bayern ins Rollen gebracht...

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