Ehemalige Rotherin in den USA: "Der American Dream ist nicht sozial"

6.11.2020, 13:14 Uhr
Ehemalige Rotherin in den USA:

Am Tag nach der Wahl? Da habe sie schlecht geschlafen, sei um 6 Uhr morgens aufgestanden – "mit einem flauen Gefühl im Magen" – um erst mal die Hochrechnungen zu checken. Andrea Hall (43) aus Roth lebt seit zwölf Jahren in den USA, "zum Glück in einem Bundesstaat, in dem die Leute nicht ganz so hirnamputiert sind wie anderswo".

Der Staat heißt Washington State, liegt am nördlichsten Zipfel der Westküste und hat mit 61 Prozent für den Demokraten Biden gestimmt. Dass der die Nase klar vorn haben würde, hatten viele Demoskopen behauptet – und lagen daneben. Denn Joe Biden und Donald Trump wurden zu Protagonisten eines "Wahl-Krimis".


Kommentar: Kommentar: Wer sagt Donald Trump, dass es reicht?


Die meisten Europäer schütteln über dieses Kopf-an-Kopf-Rennen ihr Haupt - angesichts eines selbstverliebten Amtsinhabers mit oft attestiertem "Münchhausen-Syndrom" - und fragen sich: Was ist bloß los mit diesen Amerikanern? Ein Versuch, in die aufgewühlte Volksseele zu blicken. (Das Gespräch fand am Donnerstag, 17 Uhr MEZ, statt).

Frau Hall, wie geht’s Ihrem Magen?

Leider noch nicht besser.

Sie leben in Yelm. Wie ist es da?

Yelm ist eine kleine Stadt mit knapp 10 000 Einwohnern. Die Gegend befindet sich, wie die meisten ländlichen Gebiete hier, in republikanischer Hand – obwohl der Bundesstaat Washington mit seinen Großstädten Olympia und Seattle insgesamt demokratisch geprägt ist. Sie können sich also vorstellen: Die Stimmung in Yelm ist schon seit Längerem aufgeladen, die Gemüter sind erhitzt – und die Trump-Flaggen wehen.

Dann lassen Sie uns also auf die Wahl blicken: Warum hat Joe Biden es nicht geschafft, die Massen zu mobilisieren, und weshalb konnte Donald Trump trotz allem, was er sich während seiner Amtszeit geleistet hat, so hoch punkten?

Es gibt einen breiten Teil der Bevölkerung, der sagt, Trump hätte Großartiges für die Wirtschaft geleistet. Und dann gibt’s da noch diesen Teil, der begeistert ist, dass der Präsident einem plötzlich das Recht gibt, Rassismus, Hass gegen Einwanderer und andere Voreingenommenheiten öffentlich auszuleben! Demgegenüber war Biden ein mehr als moderater Kandidat. Es heißt, er sei der schwächste, den die Demokraten überhaupt hatten aufstellen können. Dem stimme ich nicht uneingeschränkt zu, weil ich glaube, die USA ist noch nicht bereit für einen wirklich progressiven oder sehr liberalen Präsidenten wie beispielsweise Bernie Sanders. Ich persönlich hoffe ja, Biden ebnet den Weg für eine jüngere und fortschrittlichere Präsidentin...

Andrea Hall lebt in den USA.

Andrea Hall lebt in den USA.

Am Mittwoch hatte sich der amtierende Präsident schon als Wahlsieger vor die Kameras gestellt, danach von Wahlbetrug gesprochen und dann mehrere Klagen eingereicht. Wie kommt dieses Verhalten bei Trumps Anhängern an?

Das läuft runter wie Öl bei diesen Leuten. Auf social media ist ständig von Wahlbetrug die Rede. Trumps Anhänger glauben felsenfest daran, dass ihm die Wahl "gestohlen" wurde. Ihnen geht es lediglich ums Gewinnen, nicht darum, wer den besseren politischen Plan für das Land hat. Diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten sind denen sowieso egal. Ja, Trump-Fans finden’s toll, dass für den amtierenden Präsidenten nur Amerika zählt und er anderen Ländern die kalte Schulter zeigt.

Hierzulande vermag sich kaum einer die Faszination eines Donald Trump zu erklären... - Aber geht das überhaupt: Kann man denn die USA und Volkes Seele dort mit der europäischen Brille richtig fassen?

Man bedenke bitte, dass die USA ganz anders entstanden sind als viele europäische Länder! Irgendwie fühlt sich Europa ja immer so, als wäre es Amerika ganz nah, aber das stimmt nur zum Teil. Da gibt es gravierende Unterschiede.

Schreckgespenst Sozialismus

Die da wären?

Allein das Recht auf Waffenbesitz... – man bekommt hier oft gesagt, dieses Recht muss bleiben, um sich im Fall der Fälle gegen die Regierung verteidigen zu können. Das löst bei mir nur Kopfschütteln aus, weil sich’s anhört, als befände man sich im Kolonialismus. Aber das ist nun mal drin in den Hirnen. Ähnlich in der Politik: Man darf keinem Republikaner sagen, dass wir in einer Demokratie leben, Gott bewahre! Im Wahlkampf wurde daher auch das Schreckgespenst des Sozialismus/Kommunismus so erfolgreich aufgeblasen. Die meisten Leute haben keine Ahnung, was die Begriffe bedeuten. Aber sie wissen, dass sie das auf keinen Fall wollen.

Ich bin hier echt um Aufklärung bemüht und werde nicht müde, zu erläutern, dass Demokraten keine Sozialisten sind, sondern im besten Fall Sozialdemokraten. Das ist schließlich ein Unterschied und mit dem Kommunismus nicht zu vergleichen. Aber die Menschen sind stur, nur wenige wollen’s hören und sagen bloß: "Mit Biden bekommen wir den Sozialismus!"

Also das Schlimmste, was man sich vorstellen kann... Tja, der ‘American Dream’ ist nun mal nicht sozial und angeblich "jeder seines Glückes Schmied". Allein die jüngere Generation scheint über den Tellerrand zu blicken, und es besteht Hoffnung, dass in den kommenden Jahren ein Ruck durch die Gesellschaft geht.

Was hat sich unter Trumps Präsidentschaft spürbar verändert?

Die Reichen sind noch reicher geworden, die Armen ärmer. Trump tut das meiste, was er tut, für sich selbst beziehungsweise für seine Popularität und die Einschaltquoten. Außerdem tritt seit seiner Präsidentschaft der Rassismus offen zutage, es wird kein Blatt mehr vor den Mund genommen, extreme Aussagen sind eher die Regel als die Ausnahme. Der Ton hat sich definitiv geändert, man geht nicht zimperlich miteinander um. Eltern werden dafür kritisiert, dass ihre Kinder verweichlichen und so weiter...

Er spaltet die Gesellschaft.

In der Tat, die Gesellschaft ist gespalten wie nie! Man hat ja gesehen, wie heftig die Proteste gegen Gewalt an Schwarzen ausgefallen sind. Ich denke, vieles davon rührt daher, dass sich Rechtsextreme durch Trump bestätigt und beschützt fühlen. Wir stehen hier seit Monaten am Rand eines Bürgerkriegs, aber statt zu versuchen, die Leute – auch im Kampf gegen Covid-19 – zu vereinen, verhärtet Trump die Fronten. Da stehen Liberale gegen Konservative auf. Trump wird eine Wahl-Niederlage niemals auf sich beruhen lassen. Seine Fans vermutlich auch nicht. In den Großstädten wurden bereits Geschäfte verbarrikadiert...

Glauben an eine bessere Zukunft

Wären Sie jetzt lieber in Deutschland oder schlägt Ihr Herz dieser Tage umso mehr für Amerika?

Als Wahlamerikanerin und Doppelstaatsbürgerin ertrage ich diese Zeit enorm schwer. Zwei Herzen schlagen in meiner Brust: Einerseits lebe ich unheimlich gern hier, andererseits tut es mir in der Seele weh, zu sehen, wie die USA sich in Europa präsentieren und welche Meinung dort über die Bevölkerung herrscht. Ich hab’ das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen und merke, dass ich in Verteidigungsposition gehe, wenn mir andere sagen, wie dumm ,die Amerikaner’ doch seien, an Trump festzuhalten.


Zum Quiz: Wie gut kennen Sie die USA?


Über 50 Prozent der Wähler haben aber für Biden votiert – die absolute Mehrheit! Kann also gar nicht stimmen, dass alle Amerikaner doof sind! Durch das Wahlsystem hier und die Lautstärke, mit der sich die Trump-Anhänger bemerkbar machen, kommt es einem halt so vor, als seien sie in der Überzahl. Mir bleibt jetzt nur, ganz fest an eine bessere Zukunft für meine Tochter zu glauben. In Washington State hab’ ich jedenfalls ein Zuhause gefunden, das ich liebe. Auch wenn ich Deutschland, Familie und Freunde täglich vermisse...

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