Hilpoltstein hisst die weiße Fahne

21.4.2020, 06:00 Uhr
Hilpoltstein hisst die weiße Fahne

Der Krieg, der von deutschem Boden ausgegangen ist, ist nach Deutschland zurückgekehrt. Es sind die Tage kurz vor dem totalen Zusammenbruch. Auch die Hilpoltsteiner wissen: Die Amerikaner kommen. Aber man weiß nicht, wann und wie es sein wird.

Einen Tag vorher besetzen die amerikanischen Truppen Schwabach. Mit Panzersperren haben die Schwabacher die Ausfallstraßen abgeriegelt. In der Stadt herrscht ein wüstes Durcheinander. Eingeklemmte Militärfahrzeuge können weder vor noch zurück, deutsche Soldaten haben sich in der evangelischen Stadtkirchen verschanzt.

Währenddessen sitzen die Menschen in Hilpoltstein dicht zusammengedrängt in den Felsenkellern. Stündlich erwartet man den Einmarsch der amerikanischen Truppen. Der damalige Bürgermeister Otto Speck will, dass die Stadt geschont wird. "Hilpoltstein wird nicht verteidigt", sagt er und hält daran fest. Aber vor der Stadt befinden sich SS-Leute, das könnte gefährlich für die Stadt werden. Man hört die Schießerei weithin.

Der 20. April ist fast vorüber, es wird Nacht, ohne dass man eine Spur von den Amerikanern zu sehen und zu hören bekommen hätte. Doch bald darauf geht der Hexenkessel los. Die Amerikaner feuern mit Artillerie von Heuberg aus auf Hilpoltstein. Mehrere Granaten schlagen in der Nähe des ehemaligen Sparkassengebäudes ein. Das ist das Gebäude neben der Polizei, in dem sich heute die Redaktionsräume des Hilpoltsteiner Kuriers befinden. In diesem Haus wird eine junge Rotkreuzschwester, die zu Besuch bei ihrer Mutter ist, tödlich getroffen. Sie hat leichtsinnigerweise nicht den Keller aufgesucht. Am Lohbach, in der Nähe der Speckpumpen, geht ein Haus in Flammen auf. In der Freystädter Straße werden einige Häuser in Brand geschossen, nämlich das Rochusanwesen und die Scheune des Landwirts Streb. Die wenigen Männer, die in der Stadt sind, eilen noch in der Nacht zu Löscharbeiten hinaus.

 

Vorsichtig aus dem Keller

 

"Langsam verging die lange Nacht", schreibt die damals 18-jährige Elisabeth Rehm, die am 13. März 2019 verstorben ist, in ihren Erinnerungen. "Es kam der Tag, der 21. April, an dem die Amerikaner erwartet wurden. Immer wieder gingen einige vorsichtig aus dem Keller, um sich umzusehen. Wir jungen Mädchen und Buben wollten auch was sehen. Es war gegen 10 Uhr, als wir leichtsinnig über die Solarer Straße, von einigen Büschen versteckt, geduckt zur Richt hinaufliefen. Da sahen wir drüben am Schlossbuck, unter den Kastanienbäumen einen Stoßtrupp der Amerikaner in ihren Kampfanzügen. So schnell schauten wir gar nicht, da wurden wir beschossen. Wir schmissen uns hin, stolperten, rollten und liefen um unser Leben. Glücklich und unversehrt konnten wir den Keller erreichen. Haben uns vielleicht die anderen dort ausgeschimpft! Mit weißer Fahne und gehobenen Händen mussten wir alle zur Dreifaltigkeitskapelle, wo schon viele aus anderen Kellern dastanden. Jemand hat uns zugeflüstert: ` Die tun fei nix, ihr brauchts net Angst hom.´ Von bewaffneten, Kaugummi kauenden Amis wurden wir durchsucht, dann durften wir heimgehen. Wir hörten, dass unsere Stadt vom Bürgermeister an die Amis übergeben worden war. In den Straßen fuhren Panzer. Besetzt waren sie mit vielen schwarzen Soldaten. Wir hatten ja noch nie Menschen in dunkler Hautfarbe gesehen."

Hilpoltstein hisst die weiße Fahne

Nachdem sich die SS in Richtung Solar abgesetzt hat, ruft Bürgermeister Otto Speck den Volkssturm zurück und geht mit dem Stadtsekretär Benno Buxhofer mit einer weißen Fahne in der Hand den amerikanischen Truppen entgegen, um zu verhindern, dass noch mehr Schaden angerichtet wird. Seine Bemühungen haben Erfolg. Die Amerikaner zeigen sich friedlich. Sie befragen die Zivilbevölkerung und zeigen sich anfangs nicht ganz sicher, ob sie den Angaben Glauben schenken können, dass sich nur Frauen, Kinder und alte Leute in den Kellern im Wald aufhalten.

Inzwischen hat man auch oben in den Felsenkellern bemerkt, was in der Stadt los ist. Josef Grimm, der später als 1. Bürgermeister von der amerikanischen Militärregierung eingesetzt wird, kommt, ein weißes Tuch schwenkend, herunter. Auch aus den Häusern werden weißen Laken gehalten und befestigt, zum Zeichen, dass man sich friedlich ergeben werde.

In den folgenden Tagen geht es in der Burgstadt turbulent zu. Rund 30 Häuser werden beschlagnahmt. Die Bevölkerung darf sich zwischen 19 Uhr und sieben Uhr morgens nicht auf der Straße aufhalten. Die Militärregierung hat sich im Haus Marktstraße 4 (jetziges Rathaus II) einquartiert. Zuvor hat dort die NS-Kreisleitung residiert. Es beginnt die endlose und zermürbende Serie der Verhöre.

Russen und Polen, die aus den Lagern kommen, rauben, was nicht niet- und nagelfest ist. In der ehemaligen Turnhalle an der Jahnstraße ist ein großes Textillager untergebracht, davon bleibt kein Stück übrig. Auch Geschäfte werden ausgeraubt, mit Ausnahme der Backdie-Filiale an der Allersberger Straße, vor die sich schützend Russen und Polen stellen, weil sie in den Monaten zuvor von der Geschäftsführerin manches Gute erfahren haben.

Das Amt des Bürgermeisters muss von der Militärregierung mehrmals neu besetzt werden, weil sich die Männer immer wieder weigern, zu beschaffen, was man von ihnen verlangt. Als 1. Bürgermeister fungiert Josef Grimm, ihm folgt für sieben Wochen Michael Wechsler, den man später als "Postmichel" kennt. Seine erste Amtshandlung ist es, den Schulschwestern ihr ureigenes Wohngebäude wieder zurückzugeben und ihnen wieder das Mädchenschulhaus anzuvertrauen, um dort wieder Unterricht erteilen zu können.

Bald nach dem Einmarsch in Hilpoltstein langweilen sich die amerikanischen Soldaten in der Burgstadt. Sie spielen Baseball am Marktplatz. Einige Hilpoltsteiner Buben schauen ihnen beim Spielen immer wieder zu. Als sie die Soldaten fragen, ob sie auch spielen dürfen, überlassen die Amerikaner ihnen bereitwillig einen Baseballschläger. Es gilt zwar das Fraternisierungsverbot, aber die Soldaten halten sich kaum daran.

Aus Langeweile veranstalten sie sogar mit ihren kleinen Kampfflugzeugen des Öfteren waghalsige Verfolgungsmanöver, indem sie im Tiefflug über Hilpoltstein hinwegbrausen.

Die Amerikaner wandeln das NS-Denkmal am Solarer Berg in ein Denkmal gegen Krieg und Faschismus um. NS-Mitläufer werden gezwungen, mit Spaten am Sonntagvormittag anzutreten und mit Hand anzulegen.

Beinahe wäre Hilpoltstein doch noch in Schutt und Asche gelegt worden. Einer tapferen Frau ist es zu verdanken, dass die Stadt vor der Katastrophe bewahrt wird. Was ist geschehen? In der Bahnhofstraße fällt ein Schuss. Die Amerikaner, die vor wenigen Wochen die Stadt übernommen haben, werten dies eindeutig als Attentat auf einen ihrer Offiziere. Sie ordnen an, den Stadtteil von der Post bis zum Bahnhof zu zerstören.

Einer 35-jährigen Frau namens Gertrud Schindler aber gelingt es, allein mit ihren Worten die Katastrophe abzuwenden. Mit ihrer geschickten Übersetzungstaktik macht sie den Obersten der Einheiten klar, dass es sich bei dem Heckenschützen nicht um einen Deutschen gehandelt habe, sondern ehemalige Zwangsarbeiter auf der Lauer gelegen haben.

Die Offiziere schenken der Frau, die Englisch mit amerikanischem Akzent spricht, Glauben und lenken ein. Die junge Studienrätin Gertrud Schindler hat ihre Fremdsprachenkenntnisse während eines einjährigen Aufenthalts bei ihrem Onkel in Los Angeles erworben. Von 1940 an hat sie mit ihrer Familie rund zehn Jahre in der Burgstadt gelebt. Bürgermeister Otto Speck traute das junge Ehepaar 1940 in Hilpoltstein, ein Jahr darauf wird die Tochter geboren. Ihr Ehemann Anton Schindler arbeitet während dieser Zeit als Ingenieur bei der Autobahnverwaltung; einige Jahre ist er als Soldat im Feld. 1950 zieht die Familie aus beruflichen Gründen von der Hilpoltsteiner Marktstraße nach Feucht.

 

Angst vor dem "Werwolf"

 

Schon wenige Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner feuerten verschanzte SS-Truppen mit einem Geschütz auf die bereits übergebene Stadt. Aus Angst vor dem "Werwolf", Partisaneneinheiten, die auch nach dem Krieg weiterkämpfen wollten, gestehen die Amerikaner den polnischen und russischen Zwangsarbeitern ein dreitägiges Plünderungsrecht zu. Auch in diesem Fall schickt die Stadt ihre Dolmetscherin, um zu retten, was der Krieg nicht schon genommen hat. Gertrud Schindlers Bemühungen sind erfolgreich. Die Entscheidung wird aufgehoben.

Der erste Nachkriegslandrat H. P. Schmitz hat der tapferen Frau bestätigt, dass sie vom ersten Tage nach dem Einmarsch der amerikanischen Besatzungstruppen ab dem 22. April 1945 als Dolmetscherin sowohl im Interesse der Stadt Hilpoltstein als auch des Landkreises tätig gewesen ist. In dieser Zeit habe Frau Schindler unermüdlich bei Tag und Nacht ihre ganze Persönlichkeit in den Dienst der Sache gestellt. Sie habe die Stadt vor zwei großen Katastrophen bewahrt, schreibt der Landrat am 16. November 1946. Gertrud Schindler stirbt 1989 mit 79 Jahren in Feucht.

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