Solidarische Landwirtschaft: Mit krummer Karotte gegen die Verschwendung

7.10.2020, 10:47 Uhr
Solidarische Landwirtschaft: Mit krummer Karotte gegen die Verschwendung

© Foto: privat

Der Biobauernhof Dollinger in Offenbau ist mittlerweile die größte ‚Solidarische Landwirtschaft‘ der Region, kurz Solawi. Bei diesem Konzept geben sogenannte ‚Ernteteiler‘ dem Hof mit einem festen Monatsbeitrag finanzielle Planungssicherheit. Alles, was wächst, wird solidarisch in der Gemeinschaft geteilt. Ende des Jahres soll ein Laden eröffnet werden.

Als man den Hof 2014 auf Solidarische Landwirtschaft umstellte, war es gewöhnungsbedürftig, dass es dazu gehört, auch nicht normgerechte Lebensmittel einfach an die Mitglieder auszugeben. Ja, diese bestanden sogar darauf, dass nichts weggeworfen wird. "Glatt müssen sie sein, von frischem Aussehen und regelmäßig geformt."

Diese Vorgabe der Vereinten Nationen FFV-10 für Karotten erinnere an ein Casting für perfekte Haut, so Claudia Dollinger über die Vermarktungsregelungen. In der EU sind für frisches Obst und Gemüse (mit wenigen Ausnahmen) staatliche Vermarktungsnormen einzuhalten.

Gleiche Qualität

Vorgeschrieben sei darin auch, dass ein Packstück Karotten nur Möhren gleichen Ursprungs, gleicher Sorte, gleicher Qualität und gleicher Größe umfassen darf. Zwar lassen diese Normen sogenannte "Schönheitsfehler" zu, als vermarktbar gelten sie aber nur mit Preisnachlass.

Die Folge sei, dass Menschen irritiert sind, wenn sie "beinige" Möhren sehen. Unsicher fragen manche, ob man die denn essen könne. Industrie und Handel hätten makelloses Gemüse als naturgegeben normiert. Ebenmäßiges passt besser in Kisten als Krummes.

Und spart Platz, da der Transport um die halbe Welt so teuer ist. Also landen 30 bis 50 Prozent der Ernte üblicherweise auf dem Kompost. Das bedeutet: Man sät, jätet, wässert, jätet, hackt, erntet – und wirft einen großen, essbaren Teil der Ernte weg. Oder lässt ihn auf dem Acker liegen.

"Unvollkommen" 

Von über 300 Sorten Karotten werden nur noch die wenigen angebaut, die möglichst gerade und formschön wachsen. Früher baute man einen Teil der Lebensmittel selbst an. Nie hätte man "unvollkommen" geformtes Gemüse weggeworfen. Fatal ist, so Claudia Dollinger, dass heute nicht mehr jeder weiß, dass Gemüse unterschiedlich geformt sein kann und das normal ist.

Jede weitere Generation, die keinen Bezug mehr hat zur natürlichen Vielfalt von Karottenformen, übernehme fraglos die Normen. Wer etwas verändern will, solle aber zunächst die Marketingmaschine und ihre Mechanismen kritisch hinterfragen.

"Wir haben Zeit"

Die Solawi am Dollingerhof will mit einem Laden ein Experiment wagen und dieses Bewusstsein für mehr Menschen zugänglich machen. In den kommenden drei Monaten soll direkt an der Straße und in der alten Werkstatt des Hofes ein solidarischer Bauernladen entstehen, der Schönes und Krummes vom eigenen Hof vermarktet. Einen Preisnachlass werde es für krumme Möhren nicht geben, denn, so sagen die Dollingers, "diese schmecken genauso gut, und in ihnen steckt die selbe Mühe wie in den ebenmäßig geformten".

Zudem gibt es die Möglichkeit einen solidarischen Mehrbeitrag zu zahlen. Ihr sei klar, dass das Konzept gewöhnungsbedürftig ist. "Aber wir haben Zeit. Lebensmittel sollten für Menschen und nicht für Märkte produziert werden. Und alles, was essbar ist, ist gut und gleich viel wert."

So stelle der Laden neben einer Versorgung mit hochwertigen Bio-Lebensmittel wie Gemüse, Kartoffeln, Fleisch, Eier, Getreide, Milch und Käse, Nudeln und Mehl auch ein weiteres Bildungsprojekt des Solidarhofes dar.

Alle Einkünfte aus dem Laden fließen als Einnahmen ins Solawibudget. Reich werde man damit nicht, aber der Hof sei gesichert und könne seine Vielfalt bewahren. Das sei, so Dollinger, der ureigene Auftrag der Landwirtschaft: Schöpfung bewahren.

 

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