Vor 30 Jahren: Diese Revolution "grenzte an ein Wunder"

9.11.2019, 18:03 Uhr
Dr. Annett Haberlah-Pohl, hiesige Kreisheimatpflegerin und Archivarin von Hilpoltstein sowie Allersberg, kam 1977 in Bautzen/Sachsen zur Welt. Am Tag des Mauerfalls war sie elf.  Sie lebt mit Mann und zwei Söhnen in Eckersmühlen. Rosi Schneider – erstes Kind eines Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) und einer Erzieherin - wurde geboren in Bernstadt bei Löbau/Sachsen. 38 Lenze zählte die Mutter von zwei Töchtern, als die Mauer fiel. Seit zwei Jahrzehnten lebt die heute 68-Jährige in Roth.

Dr. Annett Haberlah-Pohl, hiesige Kreisheimatpflegerin und Archivarin von Hilpoltstein sowie Allersberg, kam 1977 in Bautzen/Sachsen zur Welt. Am Tag des Mauerfalls war sie elf. Sie lebt mit Mann und zwei Söhnen in Eckersmühlen. Rosi Schneider – erstes Kind eines Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) und einer Erzieherin - wurde geboren in Bernstadt bei Löbau/Sachsen. 38 Lenze zählte die Mutter von zwei Töchtern, als die Mauer fiel. Seit zwei Jahrzehnten lebt die heute 68-Jährige in Roth.

Der Countdown wurde von unzähligen Füßen losgetreten: Massenfluchten gen Westen und Großdemonstrationen für die Freiheit trieben 1989 immer mehr DDR-Bürger auf die Straße. Dann kam der Abend des 9. November. SED-Politbüro-Sprecher Günter Schabowski erklärte die DDR-Grenze im Zuge einer neuen Reiseregelung "ab sofort" für geöffnet – versehentlich, wie es später hieß.

Das, was folgte, markierte eine Zeitenwende: Tausende Menschen versammelten sich an den Berliner Grenzübergängen und wollten in den Westen. Knapp ein Jahr später feierte Deutschland seine Wiedervereinigung. Aber hat die sich auch zwischen den Menschen vollzogen? Was trennt, was verbindet Ost und West heute? Zwei Frauen aus zwei Generationen versuchen im Interview Antworten zu finden rund um den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Und sind sich da – trotz grundverschiedener Biografien – gar nicht so uneins.

Seien wir ehrlich: Ost- und Westdeutschland geben nach gemeinsamen drei Jahrzehnten kein Liebespaar vor Sonnenuntergangskulisse ab. Die Beziehung scheint eher ein Fall für den Paartherapeuten: Da wird wechselseitig über Jammer-Ossis und Besser-Wessis gelästert. Dabei sollten diese "Typisch Ossi, typisch Wessi"-Schubladen doch längst geschlossen sein, oder?

Rosi Schneider: Die sind nicht zu, nein, aber das war schon mal schlimmer. Es gab Zeiten, in denen wenig Verständnis füreinander herrschte. Man musste sich erst mal finden.

Annett Haberlah-Pohl: Das mit der Paartherapie würde ich so nicht unterschreiben. Dieses Zusammenwachsen braucht halt Zeit. Auch wenn die Ausgangssituation eine völlig andere ist, sehe ich durchaus Parallelen zu den Heimatvertriebenen: In der nächsten oder übernächsten Generation spielt die Herkunft keine entscheidende Rolle mehr.

Ordnen Sie sich denn selber in Ost-West-Kategorien ein?

Schneider: Eine meiner Töchter lebt in London und die kann solche Problemchen überhaupt nicht nachvollziehen. Man sollte sich weniger auf Himmelsrichtungen konzentrieren und stattdessen der Welt zuwenden. Die Globalisierung – das ist doch heute unser Thema!

Haberlah-Pohl: Ich habe den Großteil meines Lebens im Landkreis Roth verbracht und seh‘ mich weder als Ossi, noch als Wessi – ich bin Deutsche. Aber was man dabei nie vergessen darf, ist die unglaubliche Entwicklung, die das ermöglicht hat: Da ist in einem Unrechtsstaat eine friedliche Revolution passiert ...

Schneider: ... ja, das grenzte an ein Wunder! Denn die Geschichte lehrt, dass solche Konflikte in der Regel blutig zu Ende gingen.

Dann wollen wir uns mal in Feierlaune bringen! Man sagt, dass sich die Erinnerung an den 9. November 1989 bei allen Deutschen mit individuellen Eindrücken ins Gedächtnis gebrannt hat. Wo und wie haben Sie diesen geschichtsträchtigen Abend verbracht?

Haberlah-Pohl: Mit elf Jahren? Wahrscheinlich im Bett.

Schneider: In dem Dorf, wo ich damals Bürgermeisterin war, wurde Kirmes gefeiert. Ich kann mich tatsächlich erinnern, dass am Fenster eines Hauses plötzlich eine Kerze brannte, was mich wunderte. Aber gesprochen hat an diesem Abend niemand darüber, dass die Grenze offen war. Das drang nicht zu uns durch. Und die, die‘s wussten, konnten es wohl noch nicht so recht glauben.

Friede, Freude, Freiheit. Da steppte wirklich der Bär! Und trotzdem: Irgendwie ging es ja auch um einen Abschied. Ich meine damit nicht den Abschied von der Diktatur, sondern von Heimat, Freunden, Identität. Schwang das intuitiv mit?

Haberlah-Pohl: Da war echt was los! Ich weiß noch, dass in den Tagen danach in der Schule etliche Klassenkameraden fehlten. Die waren einfach mit der Familie in den Westen gefahren.

Schneider: Es herrschte völliges Chaos! Und diejenigen, die eine Funktion im System hatten, trauten sich zum Teil keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Ich hatte zum Glück einen guten Stand im Dorf.

Haberlah-Pohl: ..weil Sie das sagen – der Vater einer Freundin von mir war SED-Funktionär, ein herzensguter Mensch. Er hatte an dieses System geglaubt. Nach der Wende wurde ihm so einiges klar, aber man hat ihn angefeindet und am Ende ist er an all dem zerbrochen. Er hat mit Anfang 40 einen tödlichen Herzinfarkt erlitten.

Schneider: Es gab ja viele, die nicht damit zurechtgekommen sind. Einige brachten sich um, Ehen gingen auseinander ...

Vor 30 Jahren: Diese Revolution

© Jörg Schmitt, dpa

Offenbar war es aber auch generell nicht möglich, die anfängliche Euphorie in die Gegenwart zu retten?

Haberlah-Pohl: Hm,also in meiner Familie wird der Mauerfall damals wie heute als Akt der Befreiung und Hoffnung angesehen. Ich selber hatte mit einem Mal die Möglichkeit, das Abitur zu machen, mein Vater konnte als selbstständiger Tierarzt tätig werden. 1990 ersetzten wir unser 18 Jahre altes Auto durch ein neues und einige Jahre später bauten meine Eltern ein eigenes Haus. Sie konnten sich ein Leben nach ihren Wünschen einrichten, obwohl sie dann beide viel mehr gearbeitet haben. Wir alle waren freudig-optimistisch im Hinblick darauf, dass eine gute Zeit anbrach – was sich bewahrheitet hat.

Schneider: Die meisten dachten doch: ,Endlich beginnt was Neues!` Denn wir alle hatten uns schon längst nicht mehr wohl gefühlt in diesem bröckelnden Sozialismus und standen zuversichtlich vor der Herausforderung, den Aufbruch hinzukriegen. Aber als dann volkseigene Betriebe von der Treuhand in privatwirtschaftliche umgewandelt wurden und schließlich die ersten Unternehmen dicht machten, gingen die Angst und die Arbeitslosigkeit um. Das hat viele Leute kaputt gekriegt.

Kein Wunder also, wenn laut Statistik bis 1993 rund 1,4 Millionen Menschen den Osten Deutschlands verließen. Doch diejenigen, die blieben, fühlten und fühlen sich offenbar noch immer abgehängt. So lautet jedenfalls ein gern zitiertes Klischee.

Schneider: Moment mal, von welchen Menschen sprechen wir? Da werden solche Gedanken aufgegriffen und die Politiker stellen sich dann als Vertreter dieser ,armen Leute` hin, die irgendwas nicht gekriegt haben. Das sind aber doch nicht alle!

Haberlah-Pohl: Da wird künstlich was aufgebauscht, stimmt. Vielleicht bin ich schon zu lange weg, doch ich persönlich kenne keinen Ostdeutschen, der sich abgehängt fühlt.

Schneider: Sachen, die noch nicht so funktionieren, müssen eben bearbeitet werden – Renten, Löhne – und da passiert ja auch schon was.

Gibt es trotzdem Dinge, die hier noch immer befremdlich auf Sie wirken – nach all der Zeit?

Schneider: Zum Beispiel, dass nach wie vor wenig Positives aus dem Osten durchdringt. Dort gibt es inzwischen viele erfolgreiche Startups. Davon spricht kaum jemand im Westen. Warum eigentlich? Dabei gehen die Leute wieder zurück, weil sich Ostdeutschland entwickelt hat.

Haberlah-Pohl: Kann ich nur bestätigen. Als ich vergangenes Wochenende in Sachsen war, habe ich mir sagen lassen, dass die Unis dort voll sind. Die genießen einen echt guten Ruf. Und Städte wie Leipzig oder Dresden brauchen sich vor Großstädten im Westen nicht zu verstecken.

Schneider: Was ich aber wirklich sehr befremdlich finde, ist, wie wir in Gesamtdeutschland mit Ausländern umgehen .

In Ostdeutschland ist das Blau der AfD sehr dominant. Glauben Sie, das lässt sich auch auf die Folgen von Mauerfall und Wiedervereinigung zurückführen?

Schneider: Wir sind keine Analysten,aber ich könnte mir vorstellen, dass die Leute aus dem Osten mit der SED auf die Nase gefallen sind und deshalb die großen Volksparteien meiden. Viele sind jetzt vielleicht auf der Suche nach einer politischen Heimat, kann schon sein. Doch so ’ne Heimat kann die AfD sicher nicht bieten, weil sie sich selber demontiert.

Haberlah-Pohl: Rechtsruck und Nationalismen sind aber nicht nur ein deutsches Phänomen.

Schneider: Sag‘ ich doch – unser Thema ist die Globalisierung!


Kunst und Theater: So feiert die Region die Wiedervereinigung.


Um mit Willy Brandt zu sprechen: Sehen Sie Handlungsbedarf in Deutschland, damit noch mehr "zusammenwächst, was zusammengehört"?

Haberlah-Pohl: Wie schon erwähnt: Ich bin sehr zuversichtlich, dass dieses Ost-West-Denken für kommende Generationen vom Tisch ist.

Schneider: Ich denke auch, die Leute haben begriffen, wie der Hase läuft. Wichtig ist, dass jeder seinen Platz in der Gesellschaft findet. Allerdings würde ich mir mehr Gemeinschaft wünschen. Das war in der DDR ein hohes Gut, da war ja nicht alles schlecht. Und was ich in einer Demokratie eigentlich für selbstverständlich halte: dass man vernünftig miteinander redet – das gilt vor allem für die Politik, die das leider nicht immer tut!

Ihr Fazit: Ist der 9. November 2019 ein Tag, um zu feiern?

Haberlah-Pohl: Definitiv! Es ist ein Tag der Freude – im Gedenken an eine friedliche Revolution. Und dass sie ausgerechnet am 9. November war, ist eine schöne Wendung in der Geschichtsschreibung, die für dieses Datum lange Zeit nur negative Ereignisse notiert hat.

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