Schlaglöcher und getötete Kühe: Wann der Staat haftet

10.3.2021, 05:58 Uhr
Vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth werden Fragen der Staatshaftung vor der 4. Zivilkammer verhandelt.

© Thomas Frey/dpa Vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth werden Fragen der Staatshaftung vor der 4. Zivilkammer verhandelt.

Im Mai 2019 erschoss ein Polizist eine Kuh mit einer Maschinenpistole MP5 – das etwa 600 Kilogramm schwere Charolais-Rind stammte aus einem Biobetrieb im unterfränkischen Iphofen. Die Kuh entkam beim Entladen des Viehtransports vor einer Metzgerei in Scheinfeld. Der Züchter erhielt vom Freistaat 1500 Euro für das Rindvieh.

Im August 2018 schlugen Feuerwehrleute auf einem Parkplatz in Fürth die Scheiben eines Wohnmobils ein - es herrschten 35 Grad, ein Mini-Yorkshire-Terrier hechelte und winselte in dem heißen Wagen. Die Klägerin forderte rund 2250 Euro Schadenersatz von der Stadt Fürth. Sie ging leer aus.

Meist wird über Unfälle gestritten

Klagen wie diese tragen die etwas sperrige Überschrift "Staatshaftung", und die Kernfrage lautet, ob der Staat - oder dessen Amtsträger - rechtswidrig oder rechtmäßig gehandelt haben. Dass der Staat für rechtswidrig verursachte Schäden einstehen muss, leuchtet ein. Im Fall der ausgebüxten Kuh war kaum zu kontrollieren, wohin sie laufen würde, das Risiko, dass sie auf die Staatsstraße geraten würde und Verkehrsteilnehmer gefährden könnte, lag nahe. Doch offen war, ob die Polizei zu schnell gehandelt hatte.

Hätte ein Tierarzt die Kuh auch nur betäuben können? Hier einigten sich der Tierzüchter und der Freistaat auf einen Vergleich. Die Klage der Wohnmobil-Halterin gegen die Stadt Fürth wurde dagegen abgewiesen - die Feuerwehr hatte rechtmäßig gehandelt, um den Hund zu retten. Schließlich war nicht abzusehen, wann die Fahrerin des Wohnmobils zurückkehren würde.

Für Fragen der Staatshaftung ist am Landgericht Nürnberg-Fürth die 4. Zivilkammer zuständig. Meist wird über Unfälle gestritten, so Richter Martin Wiesinger-Kleinlein. Er und seine Kollegen in der Kammer haben es mit Zivilklagen von Fußgängern zu tun, die sich in öffentlichen Parkanlagen ein Knie verdreht haben, weil sie in Löcher traten, oder sich auf der Straße verletzten, weil sie ein Schlagloch nicht bemerkten. Schlechte Beleuchtung, Boller oder Blumenkübel - gestolpert wird über vieles, und Rechtsschutzversicherungen bestärken vielleicht zu mancher Klage.

Im Schwimmbad muss man mit nassen Böden rechnen

Doch unabhängig davon: Verletzt eine Kommune ihre Verkehrssicherungspflichten, muss sie Schmerzensgeld oder Schadenersatz zahlen. Dabei geht es stets um eine angemessene Risikoverteilung zwischen Bürger und Staat: Überspitzt gesagt, müssen Badegäste in einem Schwimmbad mit nassen Böden rechnen; bei Glatteis dürfen sich Passanten einer Großstadt wohl auf die Streupflicht verlassen.

Die Staatshaftung ergibt sich aus dem Grundgesetz. In Artikel 34 heißt es: "Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. Bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit bleibt der Rückgriff vorbehalten."

Beamte haften nicht persönlich

Was das heißt? Ein "Amtsträger" muss kein Beamter sein - auch ein städtischer Gärtner kann seine Amtspflicht verletzen, etwa wenn er vergaß, einen umsturzgefährdeten Baum zu fällen. Kracht der Baum auf ein parkendes Auto, kann sich die Pflicht zu Schadenersatz ergeben.

Handelt ein Amtsträger schuldhaft - ob mit Vorsatz oder nur fahrlässig - stützt sich die Rechtsprechung auch auf Paragraf 839 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Doch diese Rechtsnorm stammt noch aus dem Kaiserreich, damals musste jeder Beamte für schuldhaftes Verhalten noch persönlich gerade stehen. In der Bundesrepublik, mit Einführung des Grundgesetzes, hat der Gesetzgeber dies abgeschafft. "Wohl auch, um zu verhindern, dass Beamte aus Furcht vor persönlicher Haftung vor Entscheidungen zurückschrecken", so Justizsprecher Friedrich Weitner.

Ist der Staat alleine schuld?

Paragraf 839 beinhaltet auch die so genannte Subsidiaritätsklausel. Sinngemäß meint das Wort "nachrangig sein". Im politischen Leben zahlt nicht das Sozialministerium die Sozialhilfe, sondern die kommunale Behörde - und die Amtsmitarbeiter werden prüfen, ob nicht erst die Familie des Betroffenen helfen muss. Gewendet auf das Recht meint dies: Die Subsidiaritätsklausel ist ein negatives Tatbestandsmerkmal. Wer einen Anspruch aus Amtshaftung gerichtlich geltend macht, muss nachweisen, dass nur der Staat als Schuldner haftet.

Beispiel Dieselgate: Der Abgasskandal beschäftigt das Landgericht Nürnberg-Fürth seit dem Jahr 2016, bis Ende Februar gingen 4943 "Diesel-Verfahren" ein. Doch dabei geht es nicht nur um die Machenschaften von VW, Audi und Daimler, einige Diesel-Fahrer verklagten auch die Bundesrepublik Deutschland und warfen dem Bundesverkehrsministerium und dem Kraftfahrbundesamt vor, VW nicht ausreichend geprüft und überwacht zu haben. Die Kläger forderten Schadenersatz, da die Behörden trotz früher Anzeichen für überhöhte Emissionen zu lange untätig geblieben seien.

Die Subsidiaritätsklausel, die letztlich die Staatskasse schont, fordert, dass sich die Kläger zunächst bei den Autoherstellern schadlos halten. Das Landgericht, so Martin Wiesinger-Kleinlein, wies die Klagen ab. Ein für die Haftung nötiger Verstoß des Kraftfahrbundesamt bei der Erteilung der Typengenehmigung für die betreffenden Fahrzeuge wurde nicht festgestellt.

Das Recht zwingt den Bürger zum Misstrauen

Und nun, in Corona-Zeiten? Der Freistaat schließt Betriebe, in einigen Branchen verhängt er faktisch ein Berufsverbot - sollte sich herausstellen, dass die Behörden ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt haben, könnte deshalb ein Amtshaftungsanspruch entstehen. Der Knackpunkt: Der Bürger muss sich vorher gegen die Maßnahme wehren, sonst gehen Haftungsanspruche verloren. Wiesinger-Kleinlein: "Kein dulde und liquidiere!"

Man kann es auch so ausdrücken: Mitten in der Pandemie zwingt das Recht den Bürger zum Misstrauen - gegen Politiker, die ständig versichern, alle Maßnahmen seien nur zu unserem Schutz gedacht. Denkbar ist auch, dass über das Infektionsschutzgesetz eine Entschädigung eingeklagt werden kann. Doch die zentrale Frage wird wohl immer lauten, wann eine Maßnahme ausreicht und schützt - und wann sie nicht genügt, und Menschen gefährdet.

Dies zeige sich beispielhaft an Beschwerden von Gefangenen, so Richter Wiesinger-Kleinlein. Jüngst wies er die Klage eines JVA-Insassen ab: Der Mann fürchtete angesichts rauchender Mitgefangener um seine Gesundheit- und forderte Schmerzensgeld vom Staat. Der Haken: Als er einfuhr, hatte er selbst angegeben, Raucher zu sein.

Auch in Pandemie-Zeiten gilt das sperrige Recht um die Staatshaftung, kommentieren Martin Wiesinger-Kleinlein. "Wie Einzelfälle künftig entschieden werden, kann nur die Zukunft zeigen", so Friedrich Weitner. Doch in den vergangenen Jahren wurde es durch höchstrichterliche Rechtsprechung ständig weiter entwickelt. So gilt die Subsidiaritätsklausel nicht, sollte ein Amtsträger einen Verkehrsunfall verursachen. Diese Ausnahme, die der Bundesgerichtshof im Jahr 1979 entwickelte, beruht darauf, dass Personen, die am Straßenverkehr in gleicher Weise teilnehmen, auch in gleicher Weise haften sollen.

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