Schulverweigerer mit Erfolg

16.10.2019, 08:00 Uhr
Schulverweigerer mit Erfolg

© Patrick Pleul/dpa

Eine hohe Glasfront gibt den Blick frei auf das gepflegte Grün des Gartens mit einem ovalen Pool. Rebellion liegt da nicht gerade in der Luft. Was allerdings den Umfang ihrer schulischen Regelverstöße angeht, kann sicher keiner der aktuellen jugendlichen Klima-Schulstreiker mit Joel und Christina mithalten. Eine öffentliche Schule haben sie in den ersten neun Jahren ihrer Bildungskarriere nämlich gar nicht besucht.

Stattdessen gingen sie gemeinsam mit ihren Eltern ab dem ersten Grundschuljahr einen Weg, der am staatliche System vorbeiführt. Mit Erfolg. Christina ist jetzt 23 Jahre alt und studiert Soziale Arbeit. Ihr vier Jahre jüngerer Bruder hat die Fachoberschule (Fos) mit Bestnoten absolviert und macht derzeit eine Ausbildung zum Elektroniker.

Ihren Namen will die Familie aus dem Nürnberger Land nicht öffentlich machen. Zum einen besteht die Gefahr, dass Eltern wie Kinder dann als Bildungsexoten bestaunt werden, zum anderen ist keineswegs ausgeschlossen, dass man ihr mit feindseligem Unverständnis oder mit Intoleranz begegnet. Das erleben Abweichler wie sie in der Regel.

Die Eltern haben sich für Homeschooling entschieden, einen Unterricht in den eigenen vier Wänden. Was in anderen Ländern Europas ein anerkannter, zum Teil sogar in der Verfassung garantiertes Recht ist, wird in Bayern als Verletzung der Schulpflicht im schlimmsten Fall mit Bußgeld, mit dem Entzug des Sorgerechts, notfalls mit Gefängnis geahndet.

Wir hätten Bayern notfalls verlassen müssen

Die Eltern von Joel und Christina sind glimpflich davongekommen, auch weil die Beamten im Laufer Landratsamt mit dem damaligen Landrat Helmut Reich und später seinem Nachfolger Armin Kroder (beide FW) an der Spitze in diesem Bildungssonderfall besonnen gehandelt haben. Es hätte schlimmer kommen können. Das weiß die Familie. Dass es nicht schlimm kam, dafür empfinden der Vater, ein Bankkaufmann und IT-Experte in einem großen Kreditinstitut, und seine Frau, eine gelernte Kinderpflegerin, noch heute Dank: "Wir hätten Bayern notfalls zum Schutz der Familie verlassen müssen." Das blieb der Familie erspart weil die Behördenvertreter jede unnötige Eskalation vermieden haben, aber auch weil sich die Eltern nie hinter ihren ungewöhnlichen Vorstellungen von Schulbildung verbarrikadiert haben. Sie zeigen sich offen.

Vor 15 Jahren besuchte unsere Zeitung die Familie schon einmal. Da begann das ungewöhnliche Schulleben von Christina gerade. In der Grundschule haben die Eltern das Mädchen nie angemeldet, genauso wenig wie einige Jahre später ihren Sohn. Mehr als ein leidiges Bußgeld- und zwei Zwangsgeldverfahren hatte dies nicht zur Folge. Am Ende duldeten Schulbehörde und Jugendamt das schulische Experiment in aller Stille.

Damals wie heute begründen die Eltern ihren Schritt mit ihrem christlichen Glauben. Sie leiten daraus das Bestreben ab, in der Familie einen engen Zusammenhalt in "Harmonie und Ruhe" zu pflegen. "Wir wollen den Kindern unsere Werte vermitteln." Hinzu kommt, dass sie davon überzeugt sind, die Entwicklung ihrer Kinder so am besten gefördert und ihnen Lebensstabilität mitgegeben zu haben. Joel litt in früheren Jahren unter Mutismus, einer Kommunikationsstörung, die dazu führte, dass er in Anwesenheit Fremder einfach schwieg. "Die hätten ihn in die Sonderschule gesteckt", sagt der Vater. Nötig war das keineswegs, wie sich gezeigt hat. Eine Psychologin hatte ihn getestet. Weil er beharrlich den Mund hielt, geschah das in Schriftform. Sie sei, so die Eltern, am Ende erstaunt gewesen über die Fähigkeiten des Kindes. Anlass einzuschreiten sah die Expertin jedenfalls nicht. Heute ist das Phänomen bei Joel völlig verschwunden.

Religiöse Eiferer, die ihre Kinder von der Außenwelt abschotten und unter einer sozialen Käseglocke zu weltfremden, alltagsuntauglichen Menschen erziehen – mit solchen Schreckensszenarien sind Kritiker des Homeschooling schnell bei der Hand. Und es gibt solche Fälle, bei denen der Staat dann ganz zu Recht zum Schutz von Kindern eingreift. Das muss er allerdings oft genug auch bei Familien tun, deren Nachwuchs das staatliche Schulsystem durchläuft. Einen sicheren Schutz vor gravierenden Fehlentwicklungen gibt es so oder so nicht.

Eine bereits einige Jahre alte Studie des National Home Education Research Instituts (NHERI) in den USA, einem Land mir reicher Homeschooling-Tradition, belegt allerdings: Knapp drei Viertel der sogenannten Freilerner besuchten später weiterführende Schulen, weit mehr als der Durchschnitt, sie sind häufiger ehrenamtlich tätig oder politisch wesentlich aktiver. Die politischen Aktivitäten schlummern bei Christina und Joel offenbar noch, aber ihr Bildungsweg nimmt sich wie eine Bestätigung der Forschungserkenntnisse aus.

Der Junge hat als 15-Jähriger – neun Jahre war sein Klassenzimmer da schon das eigene Zuhause – die Aufnahmeprüfung für die 10. Klasse Realschule gemacht. "Der Rektor runzelte zunächst schon etwas die Stirn als wir Joel anmeldeten", erzählt der Vater. Später muss der Schulleiter tief beeindruckt von der Leistung und der Persönlichkeit des Jungen gewesen sein.

In den Prüfungen, in denen das Wissen in acht Fächern abgefragt wurde, schnitt Joel als Bester ab. Es folgten noch zwei Jahre Fachoberschule (Fos), ebenfalls mit sehr guten Ergebnissen. Jetzt die Elektroniker-lehre. "Ich wollte was Praktisches machen", sagt der 19-Jährige auf dem Sofa zu Hause.

Seine Schwester hat sich nach neun Jahren Hausunterricht beim Nürnberger "Intelligenzknoten", einer privaten Bildungseinrichtung, auf den staatlich anerkannten Realschulabschluss vorbereitet und dann ebenfalls die Fos abgeschlossen. Gegenwärtig studiert sie. Während eines Praxissemesters am Nürnberger Bildungszentrum (BZ) half sie, das einstige Homeschooling-Kind, Erwachsenen, sich auf einen Bildungsabschluss vorzubereiten.

Wir standen nicht permanent unter Kontrolle unserer Eltern

Und es gab nie Konflikte mit den Eltern in diesem heimischen Schulsystem? Die Kinder waren immer bereit, das ihnen aufgetragene Lernpensum folgsam zu erledigen? Wie steht es mit Wünschen, mal auf diese Elternschule zu pfeifen, der Enge der Familie zu entfliehen? Christina erweckt den Eindruck, als hielte sie solche Fragen für weit hergeholt: "Wir standen ja nicht permanent unter Kontrolle unserer Eltern." Die Geschwister waren draußen spielen mit Nachbarskindern, im Sportverein, beim Musikunterricht, Reiten. Es habe große Freiräume gegeben.

Um sich an einen Konfliktfall zu erinnern, muss die 23-Jährige einige Sekunden nachdenken. "Ich hatte mal so als Neunjährige keine Lust auf Deutsch und hab mich vor meiner Mutter in meinem Zimmer eingesperrt", erzählt sie, "den Schlüssel warf ich auf den Schrank." Dann habe sie Angst bekommen. Die Mutter gab dem Kind am Ende von außen Anweisungen, wie es sich wieder befreien kann.

Ansonsten erinnert sie sich zum Beispiel an die lustigen Lauf-Diktate. Satzteile waren auf Zetteln in der Wohnung verteilt, die musste sie einsammeln und richtig zusammensetzen. Und sie hatte Spaß daran, sich Unterrichtsstoff selbst anzueignen, bevor er dran war. Ihr gefiel es, einen Vorsprung zu haben.

Ihr Bruder Joel erzählt von einem "Sumpfgleiter", einem Boot, dass er sich mit Hilfe einer Anleitung aus dem Internet als Kind selbst gebaut hat. Er habe, so die Mutter, manchmal schon um sieben Uhr morgens zu lernen angefangen und war dann mittags mit seinem Pensum fertig. "Warum sollte ich ihn dann weiter mit Lernstoff quälen? Da ließ ich ihm lieber Zeit für seine Kreativität."

Spielerisch-heiter lief das alles freilich nicht immer ab, vor allem für die Eltern nicht. Für sie waren es auch anstrengende Jahre. Lernmaterial war zu besorgen, das Lerntempo der Kinder im Auge zu behalten, der Stoff entlang dem bayerischen Lehrplan zu vermitteln. Einen staatlich anerkannten Abschluss wollten sie den Kindern schon mit auf den Lebensweg geben. Der Vater ist erleichtert, dass dies gelang, ihm ist aber klar: "Wir hätten es für unsere Kinder nicht besser machen können. Für jeden ist das Modell aber nicht geeignet." Es verlangt ja wirklich eine ziemlich große Einsatzbereitschaft.

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