Seniorenfürsorge im Landkreis Roth

Abgründe auf dem Land: Harter Job in Messi-Wohnungen

14.7.2021, 06:04 Uhr
Wenn man total den Überblick übers eigene Leben verliert. Blick in eine "Messi-Wohnung". Solche Fälle gibt es auch im Landkreis Roth häufiger als man denkt.

© privat Wenn man total den Überblick übers eigene Leben verliert. Blick in eine "Messi-Wohnung". Solche Fälle gibt es auch im Landkreis Roth häufiger als man denkt.

Zum Beispiel der hochgradige Alkoholiker. Er hatte schon so sehr mit seinem Leben abgeschlossen, dass er keine Lust mehr hatte, aus dem Bett zu kriechen, um auf die Toilette zu gehen. Vorübergehend kamen die Nachbarn in die Wohnung und legten dem Mann Windeln an.

Irgendwann konnten aber auch sie nicht mehr. Sie suchten nach Hilfe und fanden sie bei Karin Dellermann. Die frühere Altenpflegerin ist seit zwei Jahren für die "Seniorenfürsorge" im Landkreis Roth zuständig. Manchmal trifft sie auf Zustände, die man sich lieber nicht genau vorstellen mag. Und sie findet diese Zustände nicht selten dort, wo man es niemals erwarten würde. In einem kleinen Dorf, in einer kleinen Gemeinde, mitten auf dem Land.

Abgründe auf dem Land

Ist dort die Welt nicht mehr in Ordnung? Im Großen und Ganzen vielleicht schon noch. Doch hinter den Fassaden tun sich manchmal Abgründe auf.

Was tun, wenn die 75-jährige Frau erste Anzeichen von Demenz zeigt, wenn sie abmagert, ihre Nachbarschaft terrorisiert und wenn die Verwandtschaft der Frau entweder nicht willens oder nicht fähig ist zu helfen?

Vielleicht ein Fall für Karin Dellermann. Wenn sie gerufen wird, fährt sie hin. Sie schreitet nicht ein, wie man sich das vielleicht von einer Behördenmitarbeiterin vorstellen (und manchmal auch erwarten) würde. Karin Dellermann versucht den Menschen, die am äußersten Rand der Gesellschaft leben, auf Augenhöhe zu begegnen. "Niederschwelliger Zugang", heißt das bei Sozialpädagogen.

168 mal gerufen

168 Hilferufe sind bei ihr in den vergangenen zwei Jahren eingegangen. Diese Hilferufe kommen nicht von den Betroffenen selbst. Sie kommen von Verwandten, von Nachbarn, vom Arzt, vom Pfarrer, vielleicht von der Klinik, in der die Frau oder der Mann behandelt werden musste.

Wenn diese Stellen, diese Personen den Türöffner drücken, dann beginnt für Dellermann die Arbeit. Es geht in ihrem speziellen Fall nicht darum, jemandem aus der Patsche zu helfen, bei dem es am Ende des Monats immer wieder knapp wird mit der Grundsicherung, der Grundrente, den Hartz-IV-Leistungen oder sonstigen finanziellen Hilfen. "Unsere Klientel sind Leute, die überhaupt keinen Zugang zum Sozialsystem haben", sagt Anne Thümmler, Sachgebietsleiterin am Landratsamt und Karin Dellermanns Chefin. Leute von ganz unten.

Was kann man tun?

Im besten Fall kann Dellermann im Laufe der Zeit Hilfe vermitteln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Pflegestützpunktes oder des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) können einschätzen, ob man die Eingruppierung in eine Pflegestufe ins Auge fassen kann oder haushaltsnahe Dienstleistungen organisieren könnte (wenn es dafür denn Personal gibt).

Manchmal ist medinzinische Hilfe nötig, manchmal geht es nur mit einem gesetzlich bestellten Betreuer oder mit 24-Stunden-Pflegekräften. Manchmal beginnen die Probleme nicht beim Hilfsbedürftigen, sondern schon in dessen Umfeld. "Wir versuchen das alles behutsam und vorsichtig auszuleuchten", erklärte Dellermann in der Sitzung des Ausschusses für Seniorenarbeit, soziale Angelegenheiten und Inklusion, einem Untergremium des Rother Kreistages.

Karin Dellermann ist gewiss aus hartem Holz geschnitzt. Manchmal aber stößt auch sie an Grenzen. Die Zahl der so genannten Messi-Haushalte nimmt zu, auch im in weiten Teilen ländlich strukturierten Landkreis Roth.

Wenn das Leben entgleitet

Messis, das sind Menschen, die völlig den Überblick über ihre eigene Lage verloren haben, die ihre Wohnung und ihr Haus dermaßen vermüllen, dass es praktisch kein Durchkommen mehr gibt. Exkremente häufen sich in den Ecken, Maden kriechen auf vergammelten Fleischstücken über den Küchenboden.

Das Fleisch ist aus dem Kühlschrank gefallen, weil der sich schon lange nicht mehr schließen lässt. Ganz einfach, weil viel zu viel drinsteht, das meiste darin verfault, verschimmelt, vermodert.

Um hier wieder ein kleines Stück Ordnung in ein Leben bringen, bräuchte man eine "Messi-Taskforce", sagte Anne Thümmler im Ausschuss. Eine 450-Euro-Kraft mit stabilem Magen, hart im Nehmen, genügend Zeit und einer hohen Toleranzschwelle. "Denn es nützt ja nichts, den Leuten Feuer unterm Hintern zu machen", so Thümmler. "An diese Leute kommt man nur heran, wenn sie auch die Tür aufmachen. Und sie werden sie nicht aufmachen, wenn Leute draußen stehen, die Druck machen wollen."

Recht auf Verwahrlosung

Druck funktioniert auch nicht. Denn die Persönlichkeitsrechte sind ein extrem hohes Gut in Deutschland. Das schließt eindeutig auch das Recht auf die eigene Verwahrlosung ein, wie Anne Thümmler betont. Manchmal kollidiert das allerdings mit dem Recht der Nachbarn auf ein halbwegs erträgliches Nebeneinander ohne unerträgliche Geruchsbelästigungen.

Welches Recht in welchem Fall stärker zu gewichten ist, müssen in Zweifelsfall die Gerichte entscheiden. Karin Dellermann kümmert sich um solche juristische Spitzfindigkeiten nicht. Beim oben beschriebenen Alkoholiker schritt die frühere Altenpflegerin stattdessen selbst zur Tat. "Was sollte ich machen? Ich hab´ den Dreck weggeputzt und eine neue Windel geholt."

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