Mit Beteiligung aus Kammerstein

Humorvoller "Sitzstreik": Podcast aus der Rollstuhlperspektive

20.8.2021, 15:00 Uhr
Humorvoller

© epd-bild/privat, NN

Der 18-jährige Finn Lange sitzt in Kammerstein bei Schwabach mit Kopfhörern vor seinem Laptop. Ihm gegenüber, digital aus Hildesheim zugeschaltet, spricht Charlotte Zach (27) ins Mikrofon. Für die neue Folge des Podcasts „Sitzstreik“ berichtet die Rollstuhlfahrerin von einem Supermarkt-Besuch: Zach wartet mit ihrer Assistentin, die sie im Alltag unterstützt, an der Kasse und will bezahlen. Die Kassiererin blickt auf Zach in ihrem Rollstuhl, wendet sich dann an die Begleiterin und fragt: „Oh, was hat denn die Arme?“

Eine Situation, die die Psychologiestudentin immer wieder erlebt. „Man bemitleidet mich, impliziert, ich würde leiden. Und man bevormundet mich, weil man annimmt, ich könnte gar nicht selbst kommunizieren“, berichtet sie. Finn Lange, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt, kennt die Problematik. „Mitleid bringt uns nicht weiter“, sagt er.

„Wie behinderte Personen in den Medien dargestellt werden“, erklärt Zach, „folgt häufig zwei Extremen.“ Entweder werde der arme Behinderte porträtiert, der einsam zuhause leidet. „Oder die unglaublich starke, inspirierende Person, die trotz ihres Schicksals unbeugsam ihr Leben meistert.“ Es sei Aufklärungsarbeit nötig, die die vielen Graustufen dazwischen abbilde und Menschen mit Handicap nahbar mache. Mit ihrem Podcast „Sitzstreik“ wollen Zach und Lange dazu einen Beitrag leisten - mit einer großen Portion Humor und offenen Worten.

"Kannst Du Sex haben?"

In „Sitzstreik“ teilen Zach und Lange ihre alltäglichen Erfahrungen mit den Hörern. Manche Fragen zu ihrem Leben mit Behinderung, so erzählen sie, können sie einfach nicht mehr hören. „Kannst du Sex haben?“, sagt Lange, werde er immer wieder ganz unverblümt gefragt. „An meine Privatsphäre denken die Leute dann kaum - es fehlt ein Stück weit die Scham.“ Zach kommt das bekannt vor: „Manche stellen unbedarft super-persönliche Fragen“, erzählt sie, „ohne mich zu kennen.“

Die Idee, einen Podcast „aus der Rollstuhlperspektive“ aufzunehmen, trieb Finn Lange schon länger um. Über Instagram fand er Charlotte Zach. Sieben Folgen sind mittlerweile aufgezeichnet, weitere sind geplant. Zach und Lange sprechen über das Bildungswesen, die Arbeitswelt, die Leistungsgesellschaft. Aber sie klopfen auch ihre Hobbys auf Barrierefreiheit ab: Festivals und Konzerten haben die beiden eine eineinhalbstündige Folge gewidmet.

Gemeinschaftsgefühl bei Metal-Konzerten

Lange, Heavy Metal Fan, schwärmt vom großen Gemeinschaftsgefühl unter den Festivalbesuchern. „Ob mit anderen Rollstuhlfahrern auf der Tribüne oder mit Menschen ohne Behinderung: Das fühlt sich richtig familiär an - unter völlig fremden Leuten.“ Auf Metal-Festivals werde angepackt, man helfe zusammen. „Alle gehen sofort zur Seite, wenn ich zur Rolli-Tribüne fahre, fragen, ob sie unterstützen können, holen mir vielleicht sogar ein Getränk.“

Zach blickt auf Musikfestivals mit gemischten Gefühlen. „Freud und Leid liegen da für mich recht nah beieinander“, sagt sie. „Die Teilnahme an solchen Events waren für mich mit 17 oder 18 ein Ausdruck von Freiheit, davon, dass ich mich nicht unterkriegen lasse.“

Auf der anderen Seite sei sie - nachts nur mit Freunden auf dem Festivalplatz, ohne ihre Eltern oder der Assistenz - immer wieder in Konflikt mit sich selbst geraten: „Ich habe zu spüren bekommen, dass ich auf Unterstützung angewiesen bin.“ Wie viel sie ihren Freunden zumuten könne, habe sie sich dann gefragt, und versucht, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken. „Meine Freunde liegen angetrunken in ihrem warmen Schlafsack. Und ich hänge wie ein Schluck Wasser in der Kurve, friere und überlege, ob ich mich bemerkbar machen soll.“

Humor sei stets ein wichtiger Begleiter, erzählt Zach. „Auf Festivals gibt es ja die Regel, dass man keine Flaschen mit hineinnehmen darf. Wir hatten aber noch Getränke übrig.“ Da habe sie sich vor dem Sicherheitscheck kurzerhand auf die Flaschen gesetzt. „Und wir sind durch die Kontrolle durch - nach dem Motto: Wird schon keiner die Rollstuhlfahrerin fragen, ob sie mal bitte kurz aufstehen kann.“

Tatsächlich keine freie Wahl

Zach berichtet von ihren Erfahrungen aus der Kindheit und Schulzeit. Ihren Eltern sei nahegelegt worden, ihre Tochter nicht in einen inklusiven Kindergarten zu schicken oder auf eine herkömmliche Grundschule, sondern in die jeweilige Sonderform für Behinderte. „Wieso werden nicht beide Lebensentwürfe gleichermaßen unterstützt? Damit es tatsächlich eine freie Wahl geben kann?“, fragt sie.

Für die Chancen als Mensch mit Handicap sei das Elternhaus wegweisend, stellt Lange fest, „leider immer noch auch das Portemonnaie.“ Unterschiedliche familiäre Startbedingungen führten dazu, dass Menschen ein inklusiveres Leben führen dürfen oder ein weniger inklusives führen müssen. „Wir beide arbeiten deshalb nicht in Behindertenwerkstätten, sondern konnten Abitur machen“, sagt Zach, „weil sich unsere Eltern auch gegen Widerstände von Behörden oder Schuldirektoren, dafür stark gemacht haben“.

Mehr Lobbyarbeit von Behinderten für Behinderte sei zur Lösung der Probleme essenziell, betonen Zach und Lange. „Politische Inklusion“ müsse auf die Agenda. In der Corona-Krise habe sich das besonders drastisch gezeigt: „Bei der Impfpriorisierung wurden wir, Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen, trotz erhöhten Risikos zunächst schlicht vergessen“, berichtet Lange. „Bei anderen Personengruppen, mit größerer Lobby, wäre der Aufschrei wohl groß gewesen.“

Keine Kommentare