Die Israelitische Kultusgemeinde hilft

Selenskyi in Franken und eine besondere Brücke in die Ukraine

Hans Böller

Redakteur der Nürnberger Nachrichten

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15.3.2022, 17:57 Uhr
Alexander Lissak, Vize-Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde, mit dem heutigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.   

© e-arc-tmp-20220311_165036-1.jpg, NNZ Alexander Lissak, Vize-Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde, mit dem heutigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.  

Was eine Flucht bedeutet, hat Alexander Lissak erleben müssen, da war er 13 Jahre alt. "Wir blieben von einem Krieg verschont, aber haben die Unterdrückung gespürt", sagt er. Mit seinen Eltern flüchtete Lissak im Jahr 1999 aus Kasachstan nach Nürnberg, heute ist er Vorstandsmitglied in der Israelitischen Kultusgemeinde der Stadt. "Einen wahrhaftigen Helden" nennt ihn Jo-Achim Hamburger, der Vorsitzende der Gemeinde, Alexander Lissak hebt abwehrend die Hände, nein, sagt er, ein Held, das sei er nicht. Am liebsten würde er gar nicht über sich selbst reden.

Die IKGN hilft in Charkiw.   

Die IKGN hilft in Charkiw.   © Hans Böller, NNZ

"Als ich die ersten Bilder sah, wusste ich, wir müssen handeln", sagt er – die Bilder des Leides in der von Russland überfallenen Ukraine, Alexander Lissak fühlt sich verbunden mit beiden Ländern, seine Frau ist Ukrainerin, als Konzertmanager hat er in beiden Ländern gearbeitet. Er hat viele osteuropäische Künstler nach Deutschland geholt. Einer von ihnen ist heute sehr berühmt, Alexander Lissak kann ein Foto zeigen.

"Ein guter Mensch"

Darauf zu sehen ist er selbst mit Wolodymyr Selenskyj, damals Frontmann der Musik-Kabarett-Band "Kvartal-95", beide lachen. Sie kennen sich lange und gut, jetzt sieht Lissak den Freund jeden Tag im Fernsehen. Er lacht nicht mehr, Selenskyi, der examinierte Jurist und ehemalige Comedian, ist der Präsident der Ukraine.

Alexander Lissak: Ein Held will er nicht sein.   

Alexander Lissak: Ein Held will er nicht sein.   © Hans Böller, NNZ

"Ein guter Mensch", sagt Lissak, sei Selenskyi, "vernünftig, aufmerksam, nie überheblich, einer, der allen anderen Menschen auf Augenhöhe begegnet". Zweimal war Selenskyi in Nürnberg zu Gast, "wir haben ihm die Stadt gezeigt", erzählt Lissak. Mit "Kvartal-95" trat er vor zehn Jahren während einer Deutschland-Tournee in der Fürther Stadthalle auf.

Kein Gedanke an die Angst

Als Koordinator hat Alexander Lissak, 34 Jahre alt, vom ersten Tag an die Hilfsaktionen der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg mitorganisiert, am zweiten Kriegstag waren sie in Charkiw, mit mehreren mit Hilfsgütern beladenen Bussen, Lissaks Schwiegervater war auch dabei. Ob er Angst hatte? Nein, sagt Alexander Lissak, daran sei gar kein Gedanke geblieben, "weinende Männer haben uns angehalten und uns gebeten, ihre Familien mitzunehmen".

Das Sammellager der Gemeinde. Über 150 Tonnen Hilfsgüter sind es bisher schon.   

Das Sammellager der Gemeinde. Über 150 Tonnen Hilfsgüter sind es bisher schon.   © Hans Böller, NNZ

Bis heute sind über 30 Busse hin- und hergefahren, "so viele Menschen", sagt Lissak, "haben uns geholfen", der Basketball-Bundesligist Crailsheim Merlins stellte seinen Mannschaftsbus zur Verfügung. Alexander Lissak, Vorstandsmitglied auch im Rat der Religionen, bedankt sich bei den christlichen Kirchen, der Stadt, bei Nachbarn, bei Freunden und Bekannten mit russischen Wurzeln.

Über 350 Menschen gerettet

Über 350 Menschen, ausnahmslos Frauen und Kinder, hat die Israeltische Kultusgemeinde bisher aus der Ukraine gerettet, sie sind in Räumen der Gemeinde und privat untergebracht. Rund 150 Menschen beteiligen sich an den Hilfsaktionen, mehr als 150 Tonnen Hilfsgüter gingen im Sammellager am Plärrer ein. Lissak schreibt zwei Namen auf, die von Eugenia Kreiner und Katarina Sobolevska, das ist ihm wichtig, "sie arbeiten rund um die Uhr im Sammellager, es ist überwältigend".

Alexander Lissak hat wenig geschlafen seit Beginn des Krieges, man sieht es ihm nicht an. Er strahlt Ruhe aus, ein großes Verantwortungsbewusstsein, Zugewandtheit. "Damals, als ich ein Kind war, haben wir Hilfe erhalten, jetzt können wir das zurückgeben", sagt er, und wenn irgendetwas in diesem furchtbaren Krieg Hoffnung mache, überlegt Lissak, dann sei es dieser überall spürbare Wunsch zu teilen, zu helfen, zu spenden.

Tränen - und Erleichterung

Wer den Geflohenen in den Räumen der Kultusgemeinde an der Arno-Hamburger-Straße begegnet, sieht Angst, Tränen – und Erleichterung. Hier sprechen die Menschen ihre Sprache, hier treffen sie Männer und Frauen, die einst auch aus ihrer Heimat kamen und heute ein fest integrierter Bestandteil der Nürnberger Bürgerschaft sind. Welch ungeheurer Trost das sein kann, spürt man.

Die Hilfe soll nicht abreißen.   

Die Hilfe soll nicht abreißen.   © Hans Böller, NNZ

Gut 2000 Mitglieder hat die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg, etwa 70 Prozent von ihnen, erklärt Jo-Achim Hamburger, kamen einst aus der Ukraine, etwa 25 Prozent aus Russland. Ob es jetzt Spannungen gab? Im Ansatz schon, sagt Hamburger, aber nur vereinzelt, der Zusammenhalt war stärker; "es ist uns egal, ob jemand aus Russland, aus der Ukraine oder aus Moldawien kommt, wir gehören alle zum jüdischen Volk".

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion flüchteten jüdische Bürger aus allen Teilen des zerfallenden kommunistischen Riesenreichs nach Deutschland, das Kontingentflüchtlingsgesetz machte den Weg frei, die deutschen jüdischen Gemeinden wuchsen beträchtlich – von nicht einmal mehr 30 000 Mitgliedern auf über 100 000.

"Nur hatte mein Papa selig noch vor 30 Jahren nicht die Möglichkeiten, die wir heute haben", sagt Jo-Achim Hamburger, dessen Vater Arno damals der Vorsitzende der Gemeinde war. Russisch und Ukrainisch waren Fremdsprachen, die damals – mit Ausnahme einer einzigen Frau - niemand in der Gemeinde beherrschte. Dass die Integration glückte, mutet im Rückblick wie ein kleines Wunder an – und macht Jo-Achim Hamburger "in diesen schrecklichen Tagen", wie er sagt, Mut.

Die meisten wollen bleiben

Die Geflohenen erhalten bereits Unterricht, die meisten wollen bleiben, "die Sprache zu lernen, ist zunächst das Wichtigste", sagt Jo-Achim Hamburger und erklärt gerne, "dass wir sie alle hier willkommen heißen – unabhängig davon, ob sie zur Gemeinde gehören wollen oder nicht, darum geht es uns nicht". "Wir können das heute alles aus eigenen Ressourcen schaffen", sagt Alexander Lissak, "wir haben die Leute und die Möglichkeiten dafür, was wir brauchen, worum wir bitten, sind Wohnungen für die geflohenen Menschen."

Eine lange jüdische Geschichte

Ihre leidgeprüfte Heimat hat eine besondere jüdische Geschichte. Seit dem 14. Jahrhundert blühte in der damals zum Königreich Polen gehörenden westlichen Ukraine das jüdische Leben, es herrschte eine in Europa seltene Glaubens- und Handelsfreiheit. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts stellten Juden in vielen Städten, die zu Russland oder Habsburg-Österreich gehörten, die Mehrheit der Bevölkerung. Der Überfall von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion brachte den Massenmord auch in die heutige Ukraine.

Etwa 220 000 jüdische Bürgerinnen und Bürger, schätzen Hamburger und Lissak, leben heute noch in der Ukraine. Auch Wolodymyr Selenskyj ist Jude, ein Urgroßvater und zwei seiner Großonkel wurden von den Nazis ermordet. Alexander Lissak wird Selenskyi wieder anrufen, irgendwann, wenn dieses Trauma überstanden ist. Überall, sagt er, gibt es Menschen, die alles dafür tun, was sie tun können. Als Besucher nimmt man viel Hoffnung mit nach diesem Vormittag in der Israelitischen Kultusgemeinde.

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