"Das ist ein politischer Akt"

Selten war Betrug einfacher: So funktioniert das System mit den gefälschten Impfpässen

18.9.2021, 13:36 Uhr
Auf Telegram werben Dutzende Händler für ihre gefälschten Impfpässe. 

© Screenshot: Telegram, Collage: NN Auf Telegram werben Dutzende Händler für ihre gefälschten Impfpässe. 

Der Kampf gegen die drohende Zwei-Klassen-Gesellschaft führt Timo Friese in die Kriminalität. "Das ist schon ein politischer Akt", sagt der junge Mann, der eigentlich anders heißt. Über "Kontakte" hat er sich einen gefälschten Impfpass besorgt. Eben jenes gelbe Heftchen, das bald zwischen Freiheit und kostenpflichtigen Tests steht, zwischen womöglich wieder einem Lockdown und dem Restaurantbesuch mit Freunden. "Die Gefahr, auf einen niedrigeren Status abzurutschen, ist für mich keine Option." Die Impfung aber eben auch nicht. Nicht, weil er Angst davor habe, nicht aus Ideologie, auch nicht aus grundsätzlicher Ablehnung. "Ich betrachte das als Notwehr gegen einen staatlichen Übergriff", erklärt Friese. "Das ist keine freie Entscheidung mehr."

Timo Friese tut, was einige andere Deutsche bereits getan haben – er hat sich einen gefälschten Impfpass beschafft. Allein in Bayern geht das Landeskriminalamt einer hohen zweistelligen Zahl an Verdachtsfällen nach, wie eine Sprecherin auf Nachfrage unserer Redaktion bestätigt. Oft kommen die ersten Hinweise von Bürgern, die im Internet auf dubiose Angebote stoßen. Der Marktplatz für die gelben Heftchen schlechthin ist Telegram – ein Messengerdienst, der mit strikter Verschlüsselung aller Nachrichten und Nicht-Kooperation mit der Polizei wirbt. Er ist besonders schwer zu greifen für deutsche Behörden. Auf Telegram tummeln sich mittlerweile Dutzende Händler mit Gruppen, in denen Tausende Mitglieder mit dem Kauf der gefälschten Pässe zumindest liebäugeln. Der Betrug ist nur einen Klick entfernt. Sie heißen "ImpfassDigital" oder "QRPassDigital". Teils für 50 Euro sind die Pässe zu haben, die Händler werben mit besten Kontakten in Arztpraxen und Impfzentren, mit diskreter Abwicklung. Bezahlt wird in der Regel mit Bitcoin. Auch das Bundeskriminalamt hat Messengerdienste als Hotspot ausgemacht. Vereinzelt werden dort "Zertifikate für Summen zwischen 50 und 300 Euro" gehandelt, heißt es auf Nachfrage. Immer wieder führe der Weg ins Darknet. Belastbare Fallzahlen aber fehlen.

Für Friese war der Kauf über das Internet keine Option. "Zu heikel", sagt er – und ohnehin wisse man nicht, ob die Pässe auch wirklich jemals ankämen. Stattdessen besorgte er sich das gelbe Heft über direkte Kontakte. "Für mich ist das nur ein Backup, das ich nur im absoluten Ausnahmefall einsetzen will." Lange galt der junge Mann als Genesener, hatte einen Teil seiner Grundrechte zurück. Doch damit ist nach sechs Monaten Schluss. "Dafür gibt es aber keinen ersichtlichen medizinischen Grund", wie er sagt. Mehrere Studien haben untersucht, wie infektiös Genesene im Vergleich zu Geimpften sind. Forscher, die ihre Ergebnisse etwa im Fachmagazin "Nature" veröffentlichten, gehen davon aus, dass Genesene mindestens ein Jahr lang vergleichbaren Immunschutz haben. Ob Impfstoffe mehr leisten können, ist mit Blick auf Mutationen unklar. "Selbst Ärzte haben mir gesagt, dass die Impfung für mich nicht nötig ist", sagt Friese. Doch die eigentlichen Gründe für die Entscheidung gegen die Spritze liegen mittlerweile ohnehin tiefer.

"Das Trotz zu nennen wäre mir zu infantil"

Wer mit Timo Friese spricht, der spricht mit einem aufgeklärten Menschen, keinem Verschwörungstheoretiker, keinem Querulanten. Aber mit einem, der sich unter Druck gesetzt fühlt. "Es wird gesagt, es gibt keine Impfpflicht durch die Hintertür. Gleichzeitig werden die Einschränkungen aber immer größer und niemand weiß, wo das endet", sagt er. Der junge Mann hat Angst vor der Stigmatisierung von Ungeimpften, spricht davon, permanent als "Gefährder geframed" zu werden. "Das Trotz zu nennen wäre mir zu infantil. Sagen wir es so: Bei mir hat sich eine gewisse Reaktanz gebildet." Friese fühlt sich in seiner Freiheit beschnitten - und will sich wehren. Mit Betrug.

Ein Aufkleber, ein Stempel eine Unterschrift - mehr braucht es in den gelben Heften nicht, um eine Corona-Impfung zu dokumentieren. 

Ein Aufkleber, ein Stempel eine Unterschrift - mehr braucht es in den gelben Heften nicht, um eine Corona-Impfung zu dokumentieren.  © Tim Wegner, NN

Das System der Impfhefte macht es Fälschern denkbar einfach, sagen Experten. "Sie waren nie als sicheres Dokument geplant", sagt eine Sprecherin des Landeskriminalamtes. Hologramme wie auf Personalausweisen gibt es nicht, die Chargennummern sind simple Aufkleber, die Stempel über jeden Online-Versand problemlos zu kaufen. "Das ist ein handelsübliches Druckerzeugnis, ein reiner Nachweis, der über keine prüfsicheren Merkmale verfügt", so das LKA. "Dementsprechend ist es leicht, Fälschungen herzustellen."

Ministerium hält System für "sicher und praktikabel"

Das Bundesgesundheitsministerium sieht das anders. "Wir halten das System insgesamt für sicher und praktikabel", heißt es auf Nachfrage aus dem Ressort von Jens Spahn. Man vertraue auf das Verantwortungsbewusstsein der Menschen - und dennoch habe man etwa im Zweiten Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes den Missbrauch klar definiert. "Das Ausstellen unrichtiger Dokumente wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet", so das Ministerium. Und auch Käufer machen sich womöglich wegen Urkundenfälschung strafbar.

Die Ermittlungen, sagt das LKA, sind kompliziert. Selbst Polizisten erkennen im Alltag einen fingierten Pass nicht als solchen. Das Personal in Restaurants, Kinos und bei Friseuren hat es noch schwerer. Erst wenn man "beim Aussteller, also etwa dem Arzt, Nachfragen anstellen würde", ließe sich der Betrug aufdecken, erklärt eine Sprecherin. Das aber sei aufwendig - und werde nur gemacht, wenn ein Anfangsverdacht bestehe.

Apothekerverband: "Wenn Fälschung gut gemacht ist, ist sie kaum erkennbar"

Dann, wenn die analoge Fälschung digital wird, ist sie perfekt. Das Impfzertifikat, ein simpler QR-Code, soll europaweit Freiheiten garantieren. Das Smartphone wird zum Eintrittsticket ins gesellschaftliche Leben - und zur Beglaubigung der Fälschung. Timo Friese zieht es deshalb bald in eine Apotheke. Unter anderem dort werden die QR-Codes ausgestellt. "Man kann es einfach auf gut Glück versuchen", sagt er. "Oder aber man geht wohin, wo man gehört hat, dass eher lapidar kontrolliert wird." Deutschlandweit existiert eine Art Infrastruktur, die es relativ einfach macht, an die digitalen Zertifikate zu kommen. Gegenüber unserer Redaktion etwa gibt ein Händler an, problemlos an QR-Codes aus dem Erlanger Impfzentrum zu kommen. Ob das stimmt, bleibt unklar. In Telegram-Gruppen tauschen sich Fälscher und Käufer aus, nennen Anlaufstellen, in denen weggesehen wird.

Wirklich nötig ist das aber nicht. Apotheker tun sich bei der Ausstellung des Impfzertifikates ohnehin schwer, Fälschungen zu erkennen. "Wir prüfen die Authentizität nach bestem Wissen und Gewissen", erklärt Thomas Metz vom Apothekerverband Bayern. Das geht etwa über die Haptik oder aber Rückfragen, die den Kunden nervös machen könnten. Wie hat er die Impfung vertragen? Wann war sie? Und bei welchem Arzt? Bei großen Zweifeln könne der Apotheker natürlich Nein sagen, erklärt Merz. "Aber wenn jemand genügend Energie aufbringt und die Fälschung gut gemacht ist, werden sie das nicht erkennen." Fälle in Bayern sind Merz bislang nicht bekannt, dafür sei das Phänomen zu neu. "Erst seit Corona hat der Impfausweis eine völlig neue Bedeutung." Die Gretchenfrage ist: Darf ein leicht zu fälschendes Stück Papier, das eine Impfung nur dokumentieren aber nie beweisen sollte, künftig Menschen Grundrechte ermöglichen - und verweigern?

Oft, so scheint es, decken sich die politischen Ansichten der Akteure auf dem Weg hin zum gefälschten digitalen Impfpass. Sie alle fühlen sich gegängelt, wollen sich wehren, gegen Stigmatisierung und Einschränkungen - auch wenn etwa Timo Friese nicht von einem "Netzwerk" sprechen will. "Das sind persönliche Kontakte, die sich engagieren. Ein rationaler Widerstand." Das System des gelben Impfheftes zu umgehen, zu "tricksen", wie Friese es nennt, ist für viele dabei legitim. Für ihn ist klar: "Was formell Unrecht ist, kann moralisch Recht sein."


Das bayerische Landeskriminalamt warnt davor, Fotos von sensiblen persönlichen Dokumenten wie dem Impfpass in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Unsere Recherchen zeigen: Bei den Chargennummern, die im gelben Heft eingeklebt werden, greifen die Fälscher immer wieder auch auf Bilder und Informationen willkürlich ausgewählter Opfer zurück.

Verwandte Themen