Tochter des NSU-Opfers im Interview

Semiya Simsek: "Ich kann keine Wurzeln mehr setzen!"

29.10.2021, 07:04 Uhr

© Daniel Karmann, NN

Semiya Simseks Vater Enver wurde nur 38 Jahre alt. Wer ihn getötet hatte, war elf Jahre lang unklar. Ihre Familie geriet in dieser Zeit - völlig zu unrecht - ins Visier der Polizei. Erst im November 2011, nach der Aufdeckung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, kam heraus, dass Rechtsterroristen Simsek und neun weitere Menschen in Deutschland ermordet hatten. Die Hintergründe der ungeheuerlichen Verbrechensserie, bei der neun Migranten und eine deutsche Polizistin getötet wurden, sind immer noch nicht aufgeklärt.

Frau Simsek, Sie leben seit Sommer 2012 in der Türkei. Vor ihrem Umzug sagten Sie, dass Sie nicht möchten, dass Ihre Kinder in dem Land aufwachsen, in dem Ihr Vater ermordet wurde. War es - aus heutiger Sicht - die richtige Entscheidung, Ihre Heimat zu verlassen?

Semiya Simsek: Ganz ehrlich, mit dieser Frage kämpfe ich immer noch. Denn ich bin auch in der Türkei nicht zuhause. Ich komme da irgendwie nicht an. Und ich komme auch in Deutschland nicht an. Ich dachte, ich bin angekommen. Nach den NSU-Morden gab es diese Erkenntnis, dass wir aufgrund unserer Herkunft und Identität eigentlich nicht dazugehören. Es ist jetzt fast zehn Jahre her, dass der NSU aufgeflogen ist, seit 21 Jahren ist mein Vater tot: Ich weiß nicht, wohin ich wirklich gehöre. Ich kann keine Wurzeln mehr setzen.

Semiya Simsek hat in ihrem Buch "Schmerzliche Heimat - Deutschland und der Mord an meinem Vater" die furchtbaren Geschehnisse festgehalten.

Semiya Simsek hat in ihrem Buch "Schmerzliche Heimat - Deutschland und der Mord an meinem Vater" die furchtbaren Geschehnisse festgehalten. © imago images/Wiegand Wagne, NN

Das ist sehr traurig. Wir hatten vermutet, dass Sie in der Türkei eine neue Heimat gefunden haben.

Semiya Simsek: Meine Kinder gehen dort in die Schule. Die fühlen sich angekommen, auch gut aufgehoben. Sie gehören einfach dazu. Aber ich nicht.

Ihre Familie war lange Zeit von der Polizei verdächtig worden, etwas mit dem Tod von Enver Simsek zu tun zu haben. Ihre Mutter musste furchtbare Verhöre ertragen, ihr wurden Bilder von Frauen vorgelegt, die angeblich die Geliebten Ihres Vaters gewesen sind. Nichts davon stimmte, wie wir heute wissen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Semiya Simsek: Wenn ich gedanklich zurück in diese Jahre gehe, das war eine schreckliche Zeit, die uns als Familie, die mich als Kind geprägt hat. Ich hatte jahrelang Bindungsprobleme. Ich dachte oft, hinter mir läuft jemand. Wie soll ich das beschreiben, dieses Gefühl, als plötzlich meine Mutter beschuldigt wurde? Für mich war schon ziemlich früh ganz klar: Das kann niemand aus meiner Familie gewesen sein. Aber ist es jemand, der uns bekannt ist? Darüber haben wir schon nachgedacht. Doch wir konnten uns das nicht vorstellen. Wir waren einfach... - wie soll ich das beschreiben? Mein Vater war tot, aber wir wussten nicht: Wieso? Warum? Weshalb?

Enver Simsek wurde an seinem Blumenstand in Nürnberg zwischen Langwasser und Altenfurt mit acht Schüssen getötet. Am Jahrestag finden dort Kundgebungen statt.

Enver Simsek wurde an seinem Blumenstand in Nürnberg zwischen Langwasser und Altenfurt mit acht Schüssen getötet. Am Jahrestag finden dort Kundgebungen statt. © Stefan Hippel, NN

Sie hatten im Laufe des NSU-Prozesses Einblick in Polizeiakten. Wieso liefen die Ermittlungen aus Ihrer Sicht so grandios in die falsche Richtung?

Semiya Simsek: Mein Vater war ja der erste, der erschossen wurde. Nach dem zweiten und dritten Fall hieß in der Presse: "Dönermorde". Dann hieß es, es steckten Mafia-Geschäfte dahinter und dass nur Türken betroffen seien. Es war von "Ehrenmorden" die Rede, aber die gibt's bei uns gar nicht, gab's noch nie, also da, wo wir herkommen. Diese Vorurteile, die man gegenüber Ausländern hatte, gerade damals in den neunziger Jahren, vor allem gegenüber Türken, haben die Polizei auf dem rechten Auge blind gemacht.

Hatten Sie irgendwann eine Ahnung, wer hinter der Mordserie stecken könnte?

Semiya Simsek: Wir haben ja 2006, und auch schon davor, zur Polizei gesagt: "Gucken Sie doch mal nach rechts!". Aber es hieß, es fehlten "Bekennerzeichen". Wenn es Nazis gewesen wären, dann müsste es "Bekennerzeichen" geben. Das kam immer als Argument. Heute wissen wir ja, dass es gar nicht stimmte.

Kommt zu diesen Vorurteilen bei der Polizei, von denen Sie sprechen, womöglich auch so etwas wie struktureller Rassismus hinzu?

Semiya Simsek: Struktureller und institutioneller Rassismus!

Welche Erfahrungen haben Sie bei den Ermittlungen gemacht, dass Sie davon überzeugt sind?

Semiya Simsek: Ich hab das ja auch in meinem Buch geschrieben. Ein Mann im Gefängnis wollte als Zeuge aussagen. Der kannte nicht mal meinen Vater. Er hat dann ausgesagt, dass er mit meinem Vater nach Holland gefahren sei, dass unser Auto ein Dreisitzer wäre und dass sie Drogen hinten in unserem Wagen versteckt hätten und dass es einen Kasten auf der linken Seite gegeben hätte. Unser Auto war ein Zweisitzer. Es gab gar keinen Kasten. Die Polizisten haben eher dem Häftling geglaubt und haben nicht mal nachgeforscht, anstatt einfach zu sagen: "Wir schauen uns das Auto mal an!" Die hatten doch die ganzen Bilder. Die sind doch fast jede Woche zu uns gekommen. Das ist für mich auch institutioneller Rassismus.

Sie erwähnen Ihr Buch „Schmerzliche Heimat“, in der Sie die Zeit nach dem Tod Ihres Vaters und all die falschen Verdächtigungen schildern und damit auch ein Stück aufarbeiten. Können Sie heute mit den Ermittlungsfehlern abschließen?

Semiya Simsek: Nein. Weil, ich finde, die Ermittlungsfehler gehen immer noch weiter. Dieses NSU-Trio soll nur fünf Mittäter gehabt haben. Aber für mich ist klar, es gab an den Tatorten Helfershelfer. Gegen die wird aber nicht ermittelt. Man will nicht gegen sie ermitteln. Und solange man gegen dieses Netzwerk nicht angeht, kommen wir nicht weiter. Was ist denn mit den Leuten, die der Zschäpe ihren Ausweis gegeben haben? Oder der Fall Özüdogru in Nürnberg: Diesen Änderungsschneider musste man kennen. Man kommt als Außenstehender gar nicht in diese Straße.

Das Bild von Enver Simsek hängt am Tatort in der Liegnitzer Straße.

Das Bild von Enver Simsek hängt am Tatort in der Liegnitzer Straße. © Timm Schamberger

Der Blumenstand Ihres Vaters war ausgekundschaftet worden. Ihr Vater hat am 9. September 2000, als die Schüsse fielen, seinen Angestellten vertreten, der sich noch im Urlaub befand. Haben Sie Anhaltspunkte, warum die Terroristen auf ihn aufmerksam wurden, obwohl sie vielleicht auf seinen Angestellten abzielten?

Semiya Simsek: Nein, diese Frage ist offen. Wir wissen ja nicht: Nach welchem Prinzip wurden denn die Opfer ausgesucht? Reichte es, einen schwarzen Bart zu haben, auszusehen wie ein Türke? War es speziell gegen meinen Vater gerichtet? War das ein Zufall? Für mich als Tochter sind diese Fragen sehr wichtig.

Das heißt, Sie sind weiter dran, das herauszufinden?

Semiya Simsek: Ich würde es gerne wissen, aber nach so vielen Jahren? Und die Frau Zschäpe wird auch nicht mehr darüber sprechen. Ich glaube, die Fragen werden nicht mehr beantwortet.

Sie halten sich gerade zu einem Verwandtenbesuch in Deutschland auf. Sehen Sie jetzt Ihre Heimat mit anderen Augen als noch vor zehn oder 15 Jahren?

Semiya Simsek: So vor 20 Jahren, bevor dies mit meinem Vater passiert ist, war es noch mein Land. Damals habe ich mich ja auch dazugehörig gefühlt. Nicht als Zweiter-Klasse-Mensch in Deutschland. Danach habe ich mich bewusst entschieden, in die Türkei zu gehen. Heute ist Deutschland immer noch mein Land. Denn es sind ja auch schöne Dinge in diesem Land passiert. Also, ich habe hier mein Abi gemacht, ich habe hier studiert. Ich habe so viele Freunde hier, mit denen ich immer noch Kontakt habe. Es gibt hier auch sehr, sehr schöne Seiten. Meine Familie wohnt in Deutschland. Ich bin öfter mit meinen Kindern da. Die fragen dann auch: "Was ist denn mit meinem Opa passiert?". Ich erläutere ihnen das dann mit Feingefühl.

Glauben Sie, dass der NSU-Komplex doch noch aufgeklärt wird?

Semiya Simsek: Ich wünsche es mir, ganz ehrlich. Ich wünsche mir, dass man dieses NSU-Thema nicht vergisst, niemals vergessen wird. Nicht nur den NSU, auch die Attentate von Hanau und Halle. Hanau war meine Abi-Stadt. Die Gegend kannte ich, in der das Attentat passiert ist. Wir haben uns als Jugendliche freitags und samstags dort aufgehalten. Ob beim NSU da nochmal etwas ans Licht kommt? Kann sein, weil nach elf Jahren ist ja erst der NSU ans Licht gekommen.

Mit Ihrer Rede auf der Gedenkfeier für die NSU-Opfer Anfang 2012 im Konzerthaus Berlin sind sie bundesweit bekannt geworden. Ihre Worte gingen vielen Menschen nahe. Sie gelten seitdem als das „Gesicht der Opferfamilien“. Haben Sie noch Kontakt zu anderen Angehörigen?

Semiya Simsek: Also, ich habe seit 2006 Kontakt zu Gamze Kubasik in Dortmund. Wir machen auch viele Veranstaltungen zusammen oder wir tauschen uns aus. Aber zu Nürnberger Familien hatte ich fast nie Kontakt, sie wollten das nicht, kann ich auch verstehen. Gamze und ich haben wirklich das Glück gehabt, dass wir ein bisschen älter wären, als es geschah. Ich hatte mit meinem Vater ein bisschen Zeit verbringen können. Sie müssen das so verstehen: Gamze und ich haben diesen gleichen Schmerz, wir gehen diesen Weg zusammen durch. Sie ist wie eine Schwester geworden für mich. Und sie spürt das, was ich spüre. Unsere Gefühle sind gleich. Wir lachen jetzt mittlerweile auch über Sachen und wir regen uns zusammen auf.


Die Opfer des NSU hatten noch so viele Pläne


Semiya Simsek (35) wuchs mit ihrem jüngeren Bruder Abdulkerim in der Nähe von Frankfurt auf. Heute lebt sie mit ihrem Mann Fatih, einem Journalisten, und den beiden Kindern (8 und 4 Jahre alt) in der Türkei. Die studierte Sozialpädagogin, die in Deutschland als Erzieherin gearbeitet hat, ist heute in einer staatlichen türkischen Einrichtung beschäftigt. Ihr Buch „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“ erschien im Jahr 2013.

Semiya Simsek spricht über ihre Erfahrungen bei der Matinee „Zehn Jahre nach der NSU-Enttarnung – welche Lehren haben wir gezogen?“, die die Nürnberger Nachrichten und das Staatstheater veranstalten, am Feiertag, 1. November, um 11 Uhr im Gluck-Saal des Opernhauses Nürnberg. Der Eintritt kostet 6 Euro.

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