Suizid-Prävention im Netz: Jugendliche helfen Gleichaltrigen
4.8.2020, 18:25 UhrEs gibt diverse Anlaufstellen für Menschen in Lebenskrisen. Eine ganz besondere ist das Projekt "U 25-Deutschland". Dort können junge Leute, die Suizidgedanken haben, anonym per E-Mail mit Gleichaltrigen kommunizieren. Die NZ sprach mit Dr. Anja Hildebrand von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Maren Weiss wertet sie aus, wie sich das Angebot auf die Psyche der Nutzer auswirkt.
Frau Hildebrand, inwieweit gehören Krisen zur normalen Entwicklung von Jugendlichen dazu?
Dr. Anja Hildebrand: In der Pubertät und in der Zeit des Erwachsenwerdens finden sehr viele Umbrüche statt. Da ist eine gewisse Form des psychischen Ausnahmezustands bis ins junge Erwachsenenalter ganz normal. Wir stellen aber auch fest, dass viele junge Menschen psychische Störungen haben, die darüber hinausgehen und zusätzliche Hilfe benötigen.
Wie entwickelt sich aus einer Krise eine Suizidgefahr?
Dr. Hildebrand: In dieser Entwicklung bis zum Suizid gibt es mehrere Phasen. In der ersten Phase wird ein Suizid von dem Betroffenen als mögliche Lösung der Probleme in Erwägung gezogen, die Person kann sich jedoch noch von den Suizidgedanken distanzieren und sich selbst steuern. In der folgenden Phase der Ambivalenz sind diese beiden Merkmale nicht mehr vorhanden, und es findet eine gedankliche Einengung statt. Der Betroffene
sendet aber Appelle und Notrufe aus, die Personen in der Umgebung wahrnehmen und unbedingt ernstnehmen sollten. In der Entschlussphase werden dann schließlich Vorbereitungen für einen Suizid getroffen. Hier wirkt der Betroffene oftmals entlastet. Bedenklich ist es folglich, wenn sich jemand zurückzieht und seine sozialen Kontakte immer mehr auf Eis legt, immer mehr nachdenkt und grübelt. Wobei sich in der letzten Phase suizidale Personen noch einmal an Andere wenden können, um sich auf diese Art von ihnen zu verabschieden. Und da muss man aufpassen.
Hilfe suchen
Was kann man tun, wenn man als Betroffener selbst merkt, dass der Leidensdruck zu groß wird?
Dr. Hildebrand: Gut ist es, wenn es im direkten Umfeld jemanden gibt, dem man vertraut. Das können bei Jugendlichen Lehrer sein, Verwandte, aber auch Freunde. Diese Hilfe reicht oftmals alleine nicht aus, diese Personen können dann aber an andere Stellen weitervermitteln. Wir haben in Deutschland nämlich vielfältige Möglichkeiten, sich bei suizidalen Gedanken Hilfe zu suchen.
Wohin kann man sich zum Beispiel wenden?
Dr. Hildebrand: Neben der Mail-Beratung bei "U 25", die wir evaluieren, wäre das zum Beispiel der Krisendienst Mittelfranken oder die Telefonseelsorge. Oder natürlich auch klassische Hilfsangebote wie Beratungsstellen, der Hausarzt oder Psychologen und Psychotherapeuten sowie die Einrichtungen der Kliniken vor Ort.
Mit gleichaltrigen Beratern gegen Jugend-Suizid
Wie kann man als Freund oder Familienmitglied helfen, wenn einem jemand seine Suizidgedanken anvertraut?
Dr. Hildebrand: Wichtig ist es, ein offenes Ohr zu haben, da zu sein, die Leute zu begleiten. Das sehen wir auch bei "U 25": Man sollte nicht gleich total schockiert reagieren oder andersherum das Problem des Betroffenen als "nicht so schlimm" abtun. Sondern man sollte versuchen, die Problematik zu verstehen, ohne gleich mit Ratschlägen zu kommen, die ja oft für die betroffene Person gar keine Hilfe sind. Man sollte sich Zeit nehmen und gemeinsam überlegen, was jetzt helfen könnte.
Beratung auf Augenhöhe
Was ist so besonders an "U 25"?
Dr. Hildebrand: Das Besondere ist, dass es Jugendliche sind, die auf Augenhöhe mit den Ratsuchenden kommunizieren – eben anders, als es ein erfahrener Psychotherapeut tun würde. Außerdem können die Betroffenen per E-Mail anonym und sehr niederschwellig Kontakt aufnehmen, ohne große Hürden überwinden zu müssen. Sie müssen sich nicht im Freundeskreis outen oder persönlich zu einer Beratungsstelle gehen. Man braucht nur einen Anmeldenamen. Die IP-Adresse des Computers wird auch nicht gespeichert.
Wie erste Ergebnisse zeigen, hilft das Angebot tatsächlich weiter...
Dr. Hildebrand: Genau. Eine anonyme Online-Befragung unter den Klienten von "U 25" hat ergeben, dass sich bei knapp der Hälfte (46 Prozent) der Zustand verbessert hat, bei 44 Prozent ist die Lage unverändert; nur ein kleiner Teil hat angegeben, dass sich die Situation verschlechtert hat. Diese Ergebnisse sind sehr positiv. Über 1000 Jugendliche und junge Erwachsene werden im Jahr bei "U 25" betreut. Und die Zufriedenheit ist sehr hoch. Es hat sich herausgestellt, dass der Bedarf sogar noch größer ist.
Seelische Krisen in Zeiten von Corona: Wer hilft?
Ist das Thema Suizid immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft?
Dr. Hildebrand: Ja, immer noch. Aber langsam kommt es in den Köpfen der Leute an, dass es wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen. Und "U 25" ist eines von vielen Hilfsangeboten, die zeigen: Man muss damit nicht alleine bleiben.
Info:
www.u25-nuernberg.de
Krisendienst Mittelfranken = 09 11/42 48 55-0
Telefonseelsorge = 08 00/ 111 0 111 oder 111 0 222
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