Tausend Dinge erzählen Bayerns Geschichte

1.6.2019, 15:50 Uhr
Tausend Dinge erzählen Bayerns Geschichte

© Lorenz Bomhard

Das ergraute Leinen an einem Holzstab stammt aus dem Frühjahr 1945. In Neuendettelsau im Kreis Ansbach wurde es damals auf den Kirchturm gehängt, damit die US-Truppen das Schießen einstellen. Jahrzehntelang lag die weiße Fahne vergessen in dem Gotteshaus.

Jetzt symbolisiert der Zufallsfund im neuen Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg das Kapitel "Zusammenbruch 1945". Auf der Bühne ebenfalls zu sehen: Ein Jeep und Fotos aus dem zerstörten Nürnberg von Ray D’Addario, jenem Fotografen, der die Nürnberger Prozesse dokumentierte.

Mitarbeiter vom Haus der Bayerischen Geschichte, sonst für die Landesausstellungen zuständig, erzählen im neuen Museumsbau die Vergangenheit Bayerns auf 2500 Quadratmetern und 40 Bühnen nach. Als Startpunkt ist der Beginn des Königreichs 1806 gewählt. Das Konzept: Gegenstände erzählen Geschichten aus der Geschichte.

Der Fluchtballon

Immerhin ein Drittel der 3000 Exponate stammt aus Privathaushalten. Da ist der durchschossene Helm des Niederbayern Simon Gammel aus dem Ersten Weltkrieg, die Häftlingsjacke des französischen Kommunisten Auguste Pineau aus dem Konzentrationslager in Dachau oder der selbst gebastelte Ballon der Familien Wetzel und Strelzyk, mit dem sie 1979 von der DDR nach Oberfranken flüchteten.

Museumschef Richard Loibl und seine Mitarbeiter haben penibel darauf geachtet, dass alle Teile Bayerns angemessen vertreten sind: "Wir sind Proporzweltmeister." Auf der Bühne "Ois Chicago" tummeln sich Alt- und Neubayern gemeinsam. Gezeigt wird ein riesiger Scheinwerfer, den der Nürnberger Elektropionier Sigmund Schuckert 1893 auf der Weltausstellung in Chicago präsentiert. Daneben eine Szene des Schlierseer Bauerntheaters, das ebenfalls in Chicago Triumphe feierte.

400.000 deutsche Auswanderer in der damaligen Boomtown sorgen für volle Häuser bei den Vorstellungen. Und dann fließt das Bier: Der gebürtige Oberfranke Carl von Linde hatte in den 1870er Jahren die Kältemaschine erfunden, die bald den Export von bayerischem Bier in alle Welt ermöglicht. Tausende Krüge und Emaille-Werbetafeln erzählen im Museum von der Vielfalt der Bierlandschaft in Bayern, bei der Franken eine ganz besondere Rolle spielt.

Eine Vitrine mit fünf Gitarren zeigt die Geschichte der Vertriebenen am Beispiel Bubenreuth auf. Framus, Höfner, Klira und Hoyer – das sind Namen von Instrumentenbauern, die aus dem Sudetenland in den Ort bei Erlangen gekommen waren und neu anfingen. Zu ihren Kunden zählten Elvis, Paul McCartney und Yehudi Menuhin.

Nürnbergs Rolle im Automobilbau haben die Museumsmacher nicht vergessen. Der Spatz, ein Sportwagen von Victoria, und der viersitzige Janus von Zündapp stehen in der ersten Reihe bayerischer Oldtimer. Der "Barockengel" von BMW mit seinen geschwungenen Kotflügeln und der erste Audi dürfen da nicht fehlen. Wer in einem Goggomobil Platz nimmt, kann noch einmal den Straßenverkehr der 1950er und 1960er Jahre live erleben, das Bild wird innen auf die Scheibe projiziert.

Überhaupt ist es ein Mitmachmuseum. Kinder dürfen in die Uniform der bayerischen Armee vor 200 Jahren schlüpfen und jene 30-Kilo-Tornister ausprobieren, die zur Ermattung der Soldaten besonders beigetragen hatten. Auf Halbreliefs können Sehbehinderte und Blinde ertasten, wie etwa Liesl Karlstadt und Karl Valentin sich zum Mond aufgemacht hatten. Im original Landtagsgestühl dürfen sich Besucher als Abgeordnete betätigen. Mediaguides in Audio- oder Videoversion bieten zusätzliche Erläuterungen. Und in einem Saal lassen sich alle 2056 Gemeinden im Land erkunden, sagt Museumschef Loibl, der sich schon auf den Besucheransturm ab Mittwoch, 5. Juni, freut.

Humor kommt nicht zu kurz: Da hat sich doch in die Sammlung ausgestopfter heimischer Tiere ein Wolpertinger gemischt. Und Franz Josef Strauß muss auf eine bunte Sammlung von Plakaten blicken, mit denen in den 1980er Jahren gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage von Atombrennstäben in Wackersdorf demonstriert wurde.

Gefaltetes Dach

Auch architektonisch soll das Bauwerk in Regensburg Akzente setzen, meint Architekt Stefan Traxler, der mit dem vielfach gefalteten Dach die lebhafte Regensburger Dachlandschaft als Motiv aufgenommen hat. Das Bauwerk hat Passivhaus-Standard und nimmt über Wärmetauscher Energie aus dem Altstadt-Abwasserhauptkanal. Traxler lässt sich von den Geschichten im Museum inspirieren und fügt eine persönliche hinzu.

Als Kind war der Frankfurter oft zu Besuch in der Domstadt. Sein Vater, der Cartoonist und Illustrator Hans Traxler, war nach seiner Vertreibung aus Böhmen zunächst in Regensburg gelandet. "Er war gerne hier", erzählt der Sohn, "wie auch ich".

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