Teufelskreis des Kanun

31.1.2014, 10:00 Uhr

Der Journalist Gazmend Islami berichtet für die dortigen Medien über den Prozess – und darüber, wie die deutsche Rechtsprechung mit der Tat umgeht. Er hält es für denkbar, dass sich zum Besitzdenken des Angeklagten und seinem verletzten Stolz auch „mittelalterliche Vorstellungen von Ehre“ gesellten. Da der Angeklagte selbst im Prozess schwieg, bewegt sich die Interpretation dazu, was in seinem Innersten vor sich ging, in einer Grauzone. Eine klare Abgrenzung seiner Motive fällt schwer.

Fest steht jedoch, dies betont auch Gazmend Islami, dass es sich bei der Familie der Getöteten um gesetzestreue Bürger handelt. Sie sind hervorragend in Deutschland integriert, vertrauen auf den Rechtsstaat — und die Idee der Blutrache liegt ihnen fern.

„In diesem Prozess trifft Mittelalter auf Rechtsstaat“ hatte Nebenkläger-Anwalt Steffen Ufer formuliert und dies passt zu den Tönen, die Sejdi K. anschlug, als ihn seine Ehefrau im September 2012 verließ.

Von ihrer Familie forderte er die Frau und seinen Sohn quasi als sein Eigentum zurück, er verfluchte die Familie, äußerte in einem Brief gleichzeitig die Angst vor künftiger Blutrache – und bat darum, dass nach seiner Tat sein eigener Sohn nicht das nächste Opfer werden sollte. All dies deutet darauf hin, dass in Sejdi K.s Denken der Kanun eine Rolle spielt.

Dieses albanische Gewohnheitsrecht verpflichtet Familien zur Blutrache, die Ursprünge der Gesetzessammlung reichen mindestens bis ins Mittelalter, womöglich aber sogar bis in die Bronzezeit, zurück.

In Albanien herrschen Demokratie, Rechtsstaat – und Blutrache, sagt Mathias Rohe, Inhaber des Erlanger Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung. Professor Rohe ist nicht nur promovierter Jurist, sondern auch Magister im Fach Islam-Wissenschaften. Er warnt davor, sich den Kosovo und Albanien als „homogene Gesellschaft“ vorzustellen.

Das moderne Albanien hat längst eine eigene Verfassung und seit 1995 auch ein Strafgesetzbuch, das vorsätzlichen Mord mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 20 Jahren ahndet, das Gesetz enthält auch einen Paragrafen, der „Mord aus Rache“ ausdrücklich erwähnt.

Dennoch gelingt es mitten in Europa nicht, die Selbstjustiz zu unterbinden: Die Uno schätzt, dass seit dem Ende der kommunistischen Diktatur (1991) mindestens 10000 Menschen der Blutrache zum Opfer fielen. Rund 1200 Kinder wachsen ohne Schulbildung auf, weil sie, so Rohe, „zu Hause eingeschlossen werden, aus Angst vor dem Kanun“. Sie leben in einer jungen Demokratie, und doch bieten deren Gesetze ihnen keinen Schutz, weil sie nicht wissen, wer an sie glaubt.

Uralte Konflikte

„Klare Regeln“, so Rohe, „stellt das alte albanische Gewohnheitsrecht, übrigens ist es kein muslimisches, sondern ein kulturelles Phänomen, nicht auf“. Die grausame Folge: Jeder nutzt seine eigene Interpretation darüber, wie stark seine Ehre verletzt ist, und rechtfertigt so seine Taten. So werden über Generationen ganze Familien zerstört – und da auch der Verzicht auf Blutrache als unehrenhaft betrachtet wird, beginnt ein Teufelskreis. Es sei gut vorstellbar, so Mathias Rohe, dass albanische Familien in Blutrache-Konflikte verstrickt sind, die zum Teil auf Vorfälle vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgehen. Manchmal sei es möglich, Gespräche im Hintergrund zu führen und sich freizukaufen. Er ist überzeugt, dass etliche Kosovaren und Albaner auch aus Angst vor dem Kanun in Deutschland leben.

In einer Studie hat das Bundeskriminalamt vor zwei Jahren Dutzende „Ehrenmord-Fälle“ analysiert. Dabei kam heraus, dass derartige Taten fast ausnahmslos von schlecht integrierten, bildungsfernen Migranten begangen wurden.

Und auch, um ein Missverständnis zu vermeiden: Ein „echter Ehrenmord“ ist in Deutschland ein absolutes Ausnahmephänomen und alles andere als typisch für Migranten.

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