Organisierte Nächstenliebe im zerstörten Treuchtlingen
8.10.2020, 06:04 UhrGeboren wird Julius Kelber am 18. Februar 1900 in Aufseß. Der Pfarrerssohn macht sein Abitur am Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg, danach muss er an die Westfront. Nach Kriegsende studiert Kelber evangelische Theologie in Erlangen und Leipzig, wird 1922 Jugendpfarrer in Bayreuth und ist von 1924 bis 1933 im Landesverband der Inneren Mission sowie als Hausgeistlicher im Juliusspital tätig. In dieser Zeit ist er unter anderem beteiligt am Aufbau der damals hochmodernen Evangelischen Bildkammer.
Weitere Stationen Kelbers als Pfarrer sind Krögelstein, Ulsenheim und ab Mai 1939 Treuchtlingen. Dort legt er sich schon zu Kriegsbeginn mit den Nationalsozialisten an, indem er sich in seinen Predigten gegen die Euthanasie ausspricht. Ab 1940 darf er deshalb an der Schule keinen Religionsunterricht mehr geben. Offen in Opposition zum Krieg geht der Stadtpfarrer schließlich am 4. April 1943 mit seiner viel beachteten "Stalingradpredigt". Allerdings dauert es noch über ein Jahr, bis ihn die Gestapo im Mai 1944 "für immer" aus Treuchtlingen ausweist.
Die Machthaber wollen Kelber zunächst in die Wehrmacht zwingen, dann soll er Seelsorger für die umgesiedelten Wolhyniendeutschen im Warthegau an der polnischen Grenze werden. Schließlich versetzt die Kirchenbehörde den standhaften Pfarrer ins gut 100 Kilometer entfernte Plech in der Fränkischen Schweiz, wo er unter Polizeiaufsicht steht.
Den Nazis bis zuletzt getrotzt
Heimlich kehrt Julius Kelber erstmals schon nach der verheerenden Bombardierung Treuchtlingens im Februar 1945 in seine Heimatstadt zurück, um nach seiner Familie zu sehen, ganz dann im April. Am 24. April befreien die Amerikaner die Altmühlstadt – am Abend zuvor entfernt Kelber noch zusammen mit einem Kirchenvorsteher die Zündschnüre von der verminten Altmühlbrücke, über die auch die Wasserversorgung der Stadt verläuft.
Nach dem Ende der Kämpfe macht sich der Pfarrer sofort eigenhändig daran, die Kriegsschäden an Marienkirche, Pfarr- und Vereinshaus zu beseitigen. Überliefert ist, dass unter anderem das riesige Holzkreuz an der Westseite gespickt war mit Bombensplittern. Außerdem lässt Kelber Lebensmittel sammeln – zunächst für bedürftige Treuchtlinger, dann aber schnell auch für die vielen "Neubürger" – Flüchtlinge, Heimatvertriebene und Auslandsdeutsche.
Vor 75 Jahren: Treuchtlingen versinkt im Bombenhagel
Eine besondere Rolle kommt in dieser Zeit dem von Caritas und Diakonie gegründeten Kirchlichen Suchdienst zu, der bei der Suche nach Vermissten und voneinander getrennten Angehörigen hilft (und erst 2015 seine Tätigkeit einstellt). Schon 1945 hätten sich dort viele Pfarrer aus dem Osten als Flüchtlinge gemeldet, seien aber abgewiesen worden, notiert Kelber später in seinen Erinnerungen.
150.000 Bedürftige betreut
Im Januar 1946 kommen zudem die ersten Rücktransporte ausgewiesener Deutscher aus der Tschechei und Ungarn in Treuchtlingen an. "Eine große Not und Schwierigkeit kommt für uns und alles: Zweieinviertel Millionen Flüchtlinge müssen untergebracht werden, davon 540.000 in Ober- und Mittelfranken", bilanziert der Pfarrer. "Die Flüchtlingskommissare arbeiten fieberhaft, Wohnungen werden durchgesehen, für zwei Personen darf nur ein Zimmer bewohnt werden. Wir rüsten auch in der Bahnhofsmission dafür."
Zusammen mit seiner Gemeinde hilft Julius Kelber in großem Maßstab: Bis 1950 betreut die Treuchtlinger Bahnhofsmission rund 150.000 Menschen. Viele Entwurzelte und Gestrandete sind darunter, aber auch etwa ein Drittel heimkehrende Soldaten. In der Volksküche im Gemeindehaus kochen die Frauen der Kirchengemeinde für die Bedürftigen, es gibt Informationsabende, Werkstuben für Kriegsversehrte und einen weihnachtlichen Gabentisch. Alleinstehende Flüchtlinge feiern das Weihnachtsfest in örtlichen Familien.
Bomben auf Treuchtlingen: Zeitzeugen erinnern sich
Im Sommer 1950 laden die Amerikaner den umtriebigen Treuchtlinger in die USA ein. Auch von dort aus organisiert der Geistliche Care-Pakete für seine Heimatstad – "im Dienst unserer Kirche und Gemeinde, im Dienste des Friedens und der Verständigung der Völker und besonders im Reiche der Kirche." Aus dem Evangelischen Hilfswerk entsteht Anfang 1951 der Verein für Innere Mission Pappenheim und Weißenburg mit dem Sitz in Treuchtlingen. Erster Vorsitzender ist Julius Kelber.
Wohnraum aus dem Nichts
Um die Wohnungsnot zu lindern, ruft der Pfarrer zeitgleich das Evangelische Siedlungswerk ins Leben. Allein in den 1950er Jahren baut es in der Altmühlstadt 17 neue Häuser mit 65 Wohnungen. Schon 1946 erhält Kelber von der Militärverwaltung die Lizenz zum Druck der monatlich erscheinenden "Kirchlichen Nachrichten". 1951 wird er Vorsitzender und Geschäftsführer der neu gegründeten Diakonie Weißenburg-Gunzenhausen und gründet 1954 die Treuchtlinger Stadtmission. Daneben betreut er ehrenamtlich als Seelsorger die Gehörlosengemeinde zwischen Ingolstadt und Ansbach.
Das einstige evangelische Gemeindehaus am Patrich weiht Kelber im Juli 1963 ein. Am 14. Mai 1964 ernennt ihn die Stadt Treuchtlingen zum Ehrenbürger. 1965 erhält er das Bundesverdienstkreuz erster Klasse und kehrt seiner alten Heimat den Rücken, um in Nürnberg seinen Ruhestand zu verbringen. Dort stirbt Julius Kelber am 27. März 1987 im Alter von 87 Jahren.
Dunkel und fleischarm: Treuchtlingen im Weltkrieg
"Es ist erstaunlich und fast unbegreiflich, woher Pfarrer Kelber die Zeit und Kraft nahm, in einer solchen Weise zu wirken", heißt es im Treuchtlinger Heimatbuch von 1984. Gerade in den letzten Kriegsmonaten habe er "gelernt, mit den Evakuierten und Flüchtlingen zu denken und zu fühlen", sagt der dort von Otto Meidinger Beschriebene einmal selbst. Er sei "ein überlegter und überlegener Organisator praktischer Nächstenliebe" gewesen, würdigt seine Gemeinde Julius Kelber bis heute.
(Quellen: Heimatbuch Treuchtlingen, Stadt Treuchtlingen, TK-Archiv, Evangelisches Sonntagsblatt, Wikipedia)
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