Treuchtlinger Einzelhandel: Der Grandseigneur tritt ab
28.5.2020, 10:52 UhrAls Karlheinz Erdinger 1962 seine berufliche Laufbahn als Kaufmann begonnen hat, war die Welt noch eine andere. Konrad Adenauer befand sich im vorletzten Jahr seiner Kanzlerschaft und der Deutsche Fußball Bund entschloss sich dazu, ab 1963 eine Bundesliga einzurichten. In den Innenstädten der jungen Bundesrepublik tummelten sich die Menschen in kleinen Läden und Boutiquen. Große Warenhäuser – die damals noch profitabel zu betreiben waren – lockten die kauflustige Bevölkerung des Wirtschaftswunderlandes in die Metropolen.
Vieles hat sich seitdem verändert. Karlheinz Erdinger ist immer noch da. Gemeinsam mit seiner Frau betreibt er ein kleines Lebensmittelgeschäft im Westen Treuchtlingens. Noch muss man sagen, denn am Samstag wird er sein Geschäft schließen. Die Regale leerräumen, das Licht löschen, zum letzten Mal den Schlüssel im Schloss umdrehen – nach 58 Jahren. Leicht wird das nicht, unumgänglich ist es trotzdem. „Ich werde heuer 80 und meine Frau ist inzwischen 83“, berichtet er. „Da kann man schon in Rente gehen.“ Zumal die Arbeit an die Substanz geht. Morgens um halb vier raus, zum Großmarkt nach Nürnberg, danach den ganzen Tag im Laden.
Mehr Umsatz durch Corona
Eine Kiste Äpfel wiegt 18 Kilo, Bananen bringen 20 Kilo auf die Waage. Insgesamt zwei Tonnen Lebensmittel pro Woche hat Erdinger bis zuletzt durch die Gegend gewuchtet, schätzt er. Kurz vor dem Ruhestand dann die Corona-Krise. Mit Gelassenheit und Humor hat das Paar sich dieser letzten Herausforderung seines Berufslebens gestellt. Zur Erleichterung der Kunden. „Wir haben einiges mehr Umsatz gemacht als sonst. Wir haben eben viele ältere Kunden, die dann lieber zu uns gekommen sind als in die großen Supermärkte“, sagt Erdinger. Manche seien sogar besonders vorsichtig gewesen. „Die sind draußen im Auto sitzen geblieben, haben sich von mir die Ware bringen lassen und das Geld aufs Autodach gelegt“, erzählt er.
Für alte und kranke Menschen liefert er natürlich auch an die Haustür. Ein ehrbarer Kaufmann lässt keinen im Stich – gerade in der Krise. Die Kunden danken es, sind entsprechend traurig über die bevorstehende Schließung. In Zeiten der Unsicherheit, der Angst und des Zweifels bekommt das Lokale schlagartig wieder einen Wert. Wenn von Hamsterkäufen zu lesen ist und die Regale in den Supermärkten ungewöhnlich leer sind, entdecken selbst jene Menschen die kleinen Läden wieder, denen sie schon als ein Relikt aus vergangenen Zeiten gegolten hatten.
Plötzlich kamen junge Leute
Diese Erfahrung hat man auch im kleinen Edeka in Wettelsheim gemacht. „Plötzlich haben viele wieder gewusst wo wir sind. Vor allem zu Beginn der Krise wollten die Leute lieber nicht in die großen Geschäfte“, berichtet die Besitzerin des Ladens. Ihren Namen will sie lieber nicht in der Zeitung lesen. „Es kamen auch junge Leute, die sonst nach der Arbeit irgendwo auswärts einkaufen.“ Zwischenzeitlich sogar so viele, dass auch in Wettelsheim das Toilettenpapier knapp wurde. Um 15 Uhr kam die Lieferung, um 17 Uhr waren sämtliche Rollen vergriffen. Vielleicht werden die jungen Neukunden auch nach der Krise wiederkommen, vielleicht auch nicht.
Die Landeninhaberin bezieht ihre Waren von der Handelskette Edeka, ist sonst aber eigenständige Kauffrau. Mit einem Lieferservice für ältere Menschen oder Leute, die sich aufgrund der Ansteckungsgefahr einfach nicht in den Laden trauen. Insgesamt liegt der Umsatz durch Corona ein bisschen höher als sonst. Ein klares Zeichen dafür, dass sie gebraucht werden, die kleinen Geschäfte direkt vor Ort. Doch in Treuchtlingen sind sie inzwischen selten geworden. Einzig der Lidl ist im Stadtzentrum verblieben. Aldi, Norma und Edeka haben sich in den Außenbereichen des Ortes niedergelassen. Eine schlechte Nachricht für alle, die nicht mehr mobil sind.
Der Preisfux steht weiter leer
„Wir sind schon auch der Meinung, dass es noch ein weiteres Lebensmittelgeschäft in der Innenstadt geben sollte“, sagt Marina Stoll. Sie ist bei der Stadt für Wirtschaftsförderung zuständig. Dabei scheitere es nicht unbedingt an passenden Immobilien, meint sie. Eher an Leuten, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen und einen kleinen Laden eröffnen wollten. 50 bis 150 Quadratmeter, viel mehr ist nicht drin im Herzen Treuchtlingens. Für die großen Handelsketten ist das nicht attraktiv. Und so geht die Suche weiter, auch für die Immobilie an der Oettinger Straße.
Dort befand sich früher der Preisfux, seit zwei Jahren stehen die Räume jetzt leer. Zwischenzeitlich hieß es, ein Fitnessstudio werde einziehen. Geschehen ist nichts. Auch weil der Eigentümer, eine Münchener Immobilienfirma, offenbar versucht die Mietpreise der Landeshauptstadt auf Treuchtlingen zu übertragen. „Wir können eben nur vermitteln, uns gehören die Räumlichkeiten ja nicht. Demnächst fragen wir mal wieder nach, was der aktuelle Stand ist. Von selbst erfahren wir da nichts“, klagt Stoll.
Eine, die zumindest mit dem Gedanken spielt, im Innenstadtbereich einen Lebensmittelladen zu eröffnen, ist Gabriele Prix. Sie betreibt das Cafe Naschmarkt in der Bahnhofstraße. Am 20. März musste sie schließen, erst seit Mitte Mai können die Treuchtlinger wieder auf Kaffee und Kuchen vorbeikommen. Noch läuft es eher schleppend. „Normalerweise sind bei mir oft Gruppen, natürlich mit Leuten aus mehr als zwei Haushalten“, berichtet Prix. Auch das Abstandhalten, die ständige Vorsicht schrecke manche Kunden ab. Ohne Arbeit wird es schwer Seit kurzem gibt es im Naschmarkt auch Käse, Kaffee und Brot zu kaufen.
"In meinem Alter weiß man nie, wie der Tag verläuft"
Ein Angebot, das sich durchzusetzen scheint. Prix kann sich deshalb vorstellen, zusätzlich zu ihrem Cafe ein kleines Lebensmittelgeschäft zu eröffnen – wenn Lage und Konditionen passen. Käse aus Triesdorf, Brot, Joghurt, vielleicht einige unverpackte Köstlichkeiten, das schwebt ihr vor. Auch sie weiß: Die Versorgungslage in der Innenstadt könnte besser sein.
Die Tatsache, dass sich mit Karlheinz Erdinger ab Samstag der Grandseigneur des Treuchtlinger Einzelhandels aus dem Geschäftsleben zurückzieht, verschärft die Situation noch. Erstmals in seinem Leben wird es dann nur noch um ihn, seine Frau und seine Söhne gehen. Nicht mehr um den Laden. „In meinem Alter steht man auf und weiß nie wie der Tag verläuft“, sagt er. Anfang März war er zwei Wochen im Krankenhaus. Lungenembolie. Das untätige Herumliegen im Bett hat ihn da ganz verrückt gemacht. Ein Leben ohne Arbeit, das wird nicht leicht für ihn. Aber jetzt, mit 79 Jahren, will er es wenigstens mal versuchen.