"Weder Gericht noch moralische Instanz"

28.6.2017, 19:19 Uhr

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Wie gerecht kann das Recht sein und wie gehen Sie damit um?

Alexandra Hiersemann: Das Recht hat den Anspruch, gerecht zu sein. Aber es gibt den alten Spruch, Recht und Gerechtigkeit sind leider nicht immer deckungsgleich. Mir wäre als Frage lieber, wofür das Recht steht und was passiert, wenn es mit dem Gerechtigkeitsempfinden kollidiert.

Na, dann eben diese Frage.

Hiersemann: Der Begriff der Gerechtigkeit führt manchmal in die Irre, weil das Recht sich nicht immer in den Augen aller widerspiegelt. Es erfasst nicht jeden Einzelfall, den das Leben generiert. Umgekehrt gilt, nicht alles, was dem Recht nicht entspricht, lässt sich unter der Überschrift Gerechtigkeit tolerieren. Das diskutieren wir intensiv beim Kirchenasyl, das dem geschriebenen Recht widerspricht. Es gibt viele Menschen, und zu denen zähle ich mich, die das Kirchenasyl dennoch akzeptieren, weil es um Gerechtigkeit und um Gewissensentscheidungen geht.

Sie sitzen im Petitionsausschuss, der über Gnadengesuche mit entscheidet. Wie empfinden Sie das?

Hiersemann: Wir entscheiden nicht, wir nehmen Stellung. Gnade gewährt der Justizminister und in Ausnahmefällen der Ministerpräsident. Aber ich frage mich, was kann das Recht leisten und was müssen wir als Parlamentarier und Rechtsvertreter zulassen. Gnade ist ja etwas freiwillig Wohlwollendes. Das Kirchenasyl zum Beispiel stammt noch aus der Zeit des Obrigkeitsstaates, gegen dessen Verfolgung es eine Ausnahme bot. Es gibt Leute, die das deshalb heute für einen Rechtsstaat ablehnen.

Wie grenzen Sie Gnade gegen Gerechtigkeit ab?

Hiersemann: Gnade ist etwas, das gewährt wird. Für den Theologen kommt sie einzig von Gott. Eine Juristin und Sozialdemokratin verbindet den Begriff der Gnade auch mit dem alten Feudalismus. Der Herrscher hat sie willkürlich gewährt, aber niemand hatte einen Rechtsanspruch darauf. Gerechtigkeit kann, muss aber nicht ihre Folge sein.

Aber wenn Sie im Petitionsausschuss Gnade gewähren, nach welchen Kriterien tun Sie das?

Hiersemann: Wir hatten vor vielen Jahren einen Fall, der mich immer noch sehr berührt. Es ging um einen jungen Mann, der wegen Drogendelikten etliche Jahre hinter Gitter musste, seine Strafe komplett abgesessen hat und danach dem Staat noch sehr viel Geld zurückzahlen sollte. Er war inzwischen ein gutes Mitglied der Gesellschaft, verheiratet, werdender Vater. Er wäre dennoch nie mehr auf die Beine gekommen, weil er sein Leben lang bis ans Existenzminimum seine Einkünfte an den Staat hätte abführen sollen. Jeder kann durch einen Fehler in eine ausweglose Situation kommen. Wir haben ihm einen Aufschub verschafft, der ihm zunächst Luft zum Atmen ließ. Es ist eine Art Ergänzung des geschriebenen Rechts, das nie alles erfassen kann, weil das Leben immer noch vielfältiger ist als der, der das Recht setzt.

Nun sind Sie in einer bevorzugten Position, weil sie über den Ausschuss dieses Recht gewähren können . . .

Hiersemann: Noch mal: Wir gewähren es nicht, wir bereiten nur vor. Ich weiß nicht, ob wir bevorzugt sind. Ich finde es ehrlich gesagt manchmal auch belastend.

Warum?

Hiersemann: Ich lese da Lebensgeschichten, die greifen mich schon bei der Lektüre an. Von Menschen, bei denen es an einer Stelle schiefgelaufen ist, bei denen sich zeigt, dass sie einfach kein Glück hatten im Leben. Das bewegt mich. Und ich muss mich immer wieder überprüfen, ob ich noch die notwendige Distanz habe. Ich kann eben die Welt nicht so schnell retten, wie ich das gerne täte.

Wie gehen Sie damit um? Sie müssen ja selektieren, dem einen folgen, den anderen ablehnen.

Hiersemann: Ich muss mich immer wieder zurückholen zu der Frage: Was ist meine Aufgabe und was kann ich überhaupt leisten. Ich bin weder Gericht noch bin ich moralische Instanz. Ich darf mir nicht etwas abverlangen, was ich gar nicht leisten könnte, weil ich dann ständig frustriert wäre. Ich muss jeden Fall zerlegen und ihn prüfen. Und dann den Petenten sagen: Es sieht vielleicht ungerecht aus, es ist vielleicht ungerecht, aber ich kann nicht immer ausgleichen, was das Leben an Ungerechtigkeiten schafft.

Hat Sie das verändert?

Hiersemann: Ja. Ich halte inzwischen fast nichts mehr für undenkbar. Meistens reicht einem schon das eigene Leben um zu wissen, was alles schiefgehen kann. Aber in den Petitionen stehen manchmal Dinge, die ich mir nicht hätte vorstellen können. Es braucht nicht viel, damit ein Leben entgleist. Das ist mir hier bewusster geworden als durch meine eigene Geschichte. Obwohl ich auch da gelernt habe, wie plötzlich alles anders sein kann.

Sie meinen den Tod Ihres Mannes.

Hiersemann: Es ist bald 19 Jahre her, dass er gestorben ist. Dabei war ich vergleichsweise privilegiert durch einen engen Freundeskreis, der mich aufgefangen hat. Auch dadurch bin ich sensibler geworden für die Schicksalsschläge, die andere ertragen müssen und das nicht immer können.

Die Juristerei ist sehr faktenorientiert, kühl und nüchtern . . .

Hiersemann: Das wird behauptet.

Ist sie das nicht?

Hiersemann: Ich bin Juristin, und ich denke, sie ist es nicht. Wenn ich kühl und nüchtern durch objektiv ersetze, klingt es besser. Natürlich stellt das Recht Regeln für unser Zusammenleben auf, und die müssen verbindlich sein. Deswegen sind aber doch Menschen, die diese Regeln entwickeln als Gesetzgeber oder mit ihnen arbeiten in der Justiz, nicht emotionslos und kleinkariert. Im Gegenteil. Es gibt unter den Juristen viele Menschen mit weitem Blick, weil das Recht häufig einen Rahmen bietet, innerhalb dessen man die Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten kann.

Das NSU-Verfahren läuft seit vier Jahren – aber die Gerechtigkeit, die sich viele erhoffen, wird es nie bringen. Auch da stellt sich die Frage, wie gerecht das Recht sein kann.

Hiersemann: Für die Hinterbliebenen geht es sicher um Antworten, manchmal um Strafe und Sühne. Das ist natürlich hoch emotional. Ich habe mich das oft selbst gefragt: Würde es mir helfen, wenn ich einen Täter verurteilt sähe, der einem Menschen etwas angetan hat, der mir sehr nahesteht. Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, dass ich es umgekehrt noch weniger ertragen könnte, wenn er nicht verurteilt würde – dann aber nach den Regeln eines Rechtsstaates.

Sie arbeiten als Anwältin viel im kirchlichen Bereich.

Hiersemann: Das ist ein zusätzliches Feld, auf dem ich Recht und der Frage nach Gerechtigkeit begegne. Ich muss hier regelmäßig klarmachen, dass ich das tatsächliche weltliche Recht vertrete, nicht das, was im Einzelfall gewünscht sein mag. Daraus entwickeln sich spannende Diskussionen, in denen ich oft diejenige bin, die als Erbsenzählerin auftritt. Weil ich meinem Gegenüber erklären muss, dass nicht nur zählt, was sie mit einem Vertrag sagen wollten, sondern, was in ihm geschrieben steht. Umgekehrt sehe ich manche Dinge seitdem anders, weil ich gelernt habe, dass ich mein Recht nicht immer durchsetzen muss. Die Kirche reizt ihre rechtlichen Möglichkeiten längst nicht immer aus.

Wie grenzen Sie Recht und Gerechtigkeit nun wirklich ab?

Hiersemann: Letztlich müssten wir über vier Dinge reden: Über Recht, Gerechtigkeit, Gnade und Wahrheit. Aber das bringt uns nur noch tiefer in den Wald. Trotzdem müssen wir darüber ständig nachdenken, obwohl wir die eine Antwort nicht finden werden. Wir stehen oft zwischen Not und Elend, weil wir wissen, was das Recht will, und sehen, was gerecht wäre. Das passiert gerade im Kirchenasyl, das viele befürworten, die ihre ethische Haltung als gesetzestreue Bürger ausnahmsweise über das setzen, was ihnen der Rechtsstaat vorgibt. Das ist hoch gefährlich, weil es in diesem Punkt die Regeln gefährden kann. Aber genau so ist das Leben: Es ist kompliziert und lässt sich nicht immer ohne Einzelfallbetrachtung in rechtliche Rahmen pressen.

Sind sie härter geworden in Ihrem Job oder milder?

Hiersemann: Ich war schon vorher nicht hart, aber ich bin jetzt manchmal noch verletzlicher und durchlässiger. Vielleicht hat das auch etwas mit dem Älterwerden zu tun, aber je mehr ich weiß, was passieren kann, umso mehr berührt es mich, wenn ich sehe, wie manche Menschen ihr Leben lang unter einer Unglückskäseglocke bleiben müssen.

So gesehen: Wie gerecht geht es in Bayern zu?

Hiersemann: Eine lustige Frage, Natürlich nicht gerecht genug. Im Ernst: Gerechtigkeit ist nicht an einen Ort gebunden. Insofern kann ich die Frage nicht regional beantworten. Es geht an vielen Stellen politisch ungerecht zu. Deshalb bin ich Juristin und Sozialdemokratin, weil ich die Welt gerechter machen wollte, auch in Bayern.

Ist Ihnen das gelungen?
Hiersemann: Natürlich noch nicht. Ehrlich gesagt ist der Anspruch der Weltrettung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt geschrumpft. Und trotzdem gebe ich nicht auf, konzentriere mich auf meine Möglichkeiten und bescheide mich mit den kleineren Punkten. Ich habe zwar noch nicht "das Paradies" für alle geschaffen, aber ich bin ja noch nicht am Ende mit meiner Arbeit.

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