Großes Theater für eine kleine Stadt

16.7.2019, 09:41 Uhr
Große Kulisse: Das Bühnenbild von Stefan Brandmayr ist beeindruckend in vielerlei Hinsicht. Zum einen wird das ganze Bergwaldtheater (wie bei der Hochzeit) miteinbezogen und an mehreren Orten gleichzeitig gespielt. Zum anderen gibt das Bühnenbild aber auch Rätsel auf. Ist der rote riesige Kranz ein Symbol für den Zahn der Zeit? Das Karussell des Lebens dreht sich ebenfalls schnell.

© Markus Steiner Große Kulisse: Das Bühnenbild von Stefan Brandmayr ist beeindruckend in vielerlei Hinsicht. Zum einen wird das ganze Bergwaldtheater (wie bei der Hochzeit) miteinbezogen und an mehreren Orten gleichzeitig gespielt. Zum anderen gibt das Bühnenbild aber auch Rätsel auf. Ist der rote riesige Kranz ein Symbol für den Zahn der Zeit? Das Karussell des Lebens dreht sich ebenfalls schnell.

Man weiß schon jetzt, dass einige Wünsche in Erfüllung gehen werden. Schon vor der Premiere bekam das Stück, das der Autor selbst als „Sommernachts- GAU“ bezeichnet, überregionale Aufmerksamkeit und lockte selbst Feuilletonisten aus München und Nürnberg in die Freilichtbühne, die vor allem hier vor Ort eine eingefleischte lokale Fangemeinde hat.

Ein aufwühlendes Stück

Nach dem Lebkuchenmann dürfte jedenfalls nichts mehr so sein wie zuvor: Das Theaterprojekt unter der Leitung des Regisseurs Georg Schmiedleitner hat Profi- und Laienschauspieler sowie eine Vielzahl an Weißenburger Bürgerinnen und Bürgern zusammengeschweißt und für einen Stoff begeistert, der von der ersten Sekunde an verstört, verschreckt und begeistert zugleich. Dass Franzobel, Weißenburgs erster Stadtschreiber, keine leichte Kost kredenzen wird, war zwar klar. Was dem Publikum dann aber in den gut zweieinhalb Stunden um Augen und Ohren fliegt, kann an einem Abend alleine nicht verdaut werden.

Kommen sich immer näher: der Lebkuchenmann (Andreas Leopold Schadt) und Marie (Nina Gerbig). Ein Happy End gibt es trotzdem nicht.

Kommen sich immer näher: der Lebkuchenmann (Andreas Leopold Schadt) und Marie (Nina Gerbig). Ein Happy End gibt es trotzdem nicht. © Markus Steiner

Wenn den Weißenburgern ihre Stadtgeschichte in einem kaleidoskopartigen Parforceritt durch den Stadtwald in Erinnerung gerufen wird, dann wühlt das gewaltig auf. Wenn historische Fakten wie die hohe Stadtverschuldung (1481), der Bauernkrieg und die Bauernunruhen Anfang des 16. Jahrhunderts, der Hexenprozess der „Bösmüllerin“ (1590), die Hinrichtung der Kindsmörderin Maria Barbara Drießlein (1731), die Bombenangriffe auf Weißenburg am 23. Februar und 21. April des Jahres 1945 oder das Kriegsende mit dem Einmarsch der Amerikaner am 23. April 1945 bildgewaltig umgesetzt werden, dann ist das ein echter Sommernachts-Albtraum, wie man nun bei der Generalprobe am Mittwoch erstmals erleben konnte.

Regisseur Georg Schmiedleitner hat Franzobels Stück genial umgesetzt. Er will aufrütteln und bewegen und mit seinem Theater eine Botschaft ans Publikum bringen. Franzobel will vor allem, dass man über seinen Lebkuchenmann in der Stadt spricht, dass das Theater die Leute zusammenbringt und sie dabei auch ihre eigene Geschichte reflektieren.

Hatte nur ein paar Tage Zeit für ihr Rolle: Bettina Brezinski als Elfe Phoebe.

Hatte nur ein paar Tage Zeit für ihr Rolle: Bettina Brezinski als Elfe Phoebe. © Markus Steiner

Der Lebkuchenmann, der mit Andreas Leopold Schadt perfekt be setzt wurde, ist dabei eine Gestalt, die dem durch den Weißenburger Wald und die Geschichte irrlichternden Paul (Sebastian Witt) zur Seite steht, in die Geschichte eingreift und sie verändern will. Er nimmt Paul, der nach seinem Autounfall im Stadtwald in die Fänge der diabolischen Elfe Phoebe (Bettina Brezinski) gerät, an die Hand.

Der Lebkuchenmann verkörpert in dem Stück die Moral. Er ist zum Beispiel derjenige, der dem Kohl fressenden und ehebrechenden Markgrafen von Ansbach ins Gewissen redet. Derjenige, der der Räuberbande um ihren Anführer Franz Troglauer antwortet: „Im Namen der Liebe komme ich.“ Und er ist es auch, der sie vom Bösen abbringen will. Der nach Zimt duftende Lebkuchenmann ist der Gegenspieler der dominanten Erlkönigin (Anna Mateur), die sich freut, wenn die Welt untergeht.

Paul wird im mythischen und mystischen Bergwald zum Spielball zwischen Gut und Böse, gerät in Gewissenskonflikte und erschießt, von Phoebe bedrängt, sogar einen Menschen. Vor allem im zweiten Akt dreht sich das Karussell der Grausamkeiten, das es auch als beeindruckende Bühnenrequisite gibt, immer schneller. Paul wünscht sich deshalb nichts mehr, als in seine (reale) Welt zurückzukehren, die laut Phoebe genauso scheinheilig und verlogen ist.

Dominant, rachesüchtig und fies: Anna Mateur füllt ihre Rolle als Erlkönigin, die die Welt vernichten will, hervorragend aus.

Dominant, rachesüchtig und fies: Anna Mateur füllt ihre Rolle als Erlkönigin, die die Welt vernichten will, hervorragend aus. © Markus Steiner

Als sich das Karussell immer schneller dreht und man sich kurz vor dem Weltuntergang wähnt, wird der Lebkuchenmann moralisch und richtet sich direkt ans Publikum: „Seht Euch das an, was passiert, wenn alle wegschauen. Ihr müsst handeln, Ihr müsst was tun, es kann nicht sein, was nicht sein darf.“

Der umgedrehte Handschuh

Für die Erlkönigin, die das Reich des Dunkeln regiert, ist das ein Affront. „Jetzt beginnt die Zeit des Zorns“, donnert Anna Mateur mit ungeheurer Präsenz von der Bühne, und es folgt eine Szene, die besonders bildgewaltig daherkommt: Julia Templer tanzt als Primaballerina zwischen Bein- und Armprothesen einen Spitzentanz, der trotz des schrecklichen Trümmerfeldes einerseits sehr ästhetisch, andererseits aber auch verstörend wirkt. Eine Szene, die prototypisch für den Lebkuchenmann ist, der sich am Ende als Bruder der Erlkönigin herausstellt und konstatiert: „Die Wirklichkeit ist wie ein Handschuh, den man umstülpen kann.“

Es ist ein Stück, das man aufgrund seiner Komplexität, der vielen Handlungsorte und Neben(kriegs)schauplätze, der Vielzahl an Akteuren und infolge der historischen Bezüge nicht beim ersten Anschauen begreifen kann. Das Stück kommt vielmehr daher wie ein Wimmelbuch, in dem man immer wieder etwas Neues entdecken kann, obwohl man es schon tausendmal betrachtet hat. Und es ist definitiv ein Stück, das bewegt, wachrüttelt, erschrickt und (ganz selten) sogar ein wenig amüsiert. Zum Beispiel, als der Lebkuchenmann den überschuldeten Weißenburger Ratsherrn in breitestem Fränkisch die Leviten liest: „Alter, ich könnt‘ kotzen, wenn ich Euch seh‘. Ihr habt es einfach verschissen, Ihr Hundskrüppl, ich könnt‘ Euch links und rechts eine neihaun!“

Neben Andreas Leopold Schadt und Anna Mateur brillierte vor allem Bettina Brezinski, die sich die Rolle der wütenden, tobenden, tanzenden und singenden Phoebe in nur vier Tagen aneignen musste. Auch Sebastian Witt als Paul gefällt richtig gut. Von den Laiendarstellern soll hier keiner explizit herausgegriffen werden, sondern die Leistung als Team gebührend gelobt werden.

Soll man ihn sich also anschauen, den Lebkuchenmann? Ein klares: Jein. Der Lebkuchenmann ist kein Stück für einen vergnüglichen Sommerabend und kein Stück für jedermann. Aber es ist ein Stück, das eine Botschaft hat, die ganz individuell interpretiert werden kann. Theater, das unterhalten und nützen zugleich kann. Großes Theater in einer kleinen Stadt,die über sich selbst hinausgewachsen ist.

DIE DARSTELLER

Profis und Laien

Der Lebkuchenmann: Andreas Leopold Schadt. Die Erlkönigin: Anna Matteur/ Claudia Bill. Phoebe: Bettina Brezinski. Paul: Sebastian Witt. Der kleine Mann: Thomas Hausner. Die kleine Frau: Brigitte Brunner. Ratsherr Minderlein: Klaus Winkler. Ratsherr Döderlein: Johannes Rank. Ratsherr Schnitzlein: Josef Talavasak. Ratsherr Schäuferle: Peter Salisch. Ratsherr Dreiimweggla: Thorsten Michel. Ratsherr Fastenbier: Max Hetzner. Troglauer: René Rüprich. Tragler: Michael Stroh. Guck: Richard Brening. Schlack: Manuel Adacker. Marie: Nina Gerbig. Marianne: Kristina Schiegl. Korbinian Peinlein: Florian Gerbig. Peinleins Mutter: Maria-Theresia Rupp. Markgraf: Alexander Gun. Gräfin: Anja Michel. 1. Bauernanführer: Erwin Prosiegel. 2. Anführer: Christian Grimm. Klausner: Mathias Böhner. Anna: Sophia Damerow. Elisabeth: Sophia Tiede. Brösel: Christian Grimm. Wilde: Rainer Lentz. Hermann Sippel: Andreas Ahner/ Martin Bruhn. 1. Soldat: Maximilian Schiegl. 2. Soldat: Baran Kamil Söhmez. Deserteur: Christian Grimm. Polizist: Christian Grimm. Bräutigam: Fabian Edtinger. Braut Barbara/Paulin: Sonja Edtinger. Händler: Hartmut Röhl. Köchin/Jungfer: Cornelia Röhl/Iris Bauer. Stadtführerin: Edith Heckel. Trümmerfrauen: Marianne Koller, Andrea Kunze, Tina Kraft, Susanne Ludwig, Cornelia Röhl, Edelgard Schmidt, Heike Winkelmeier. Zeittakter: Kathrin Schramm, Manfred Schindler, Rahel Bucher. Kinder und Jugendliche: Hanna Alberter, Jana Bilek, Felisa Edtinger, Theo Edtinger, Mara Hüttinger, Alina Idrisov, Jana Ludwig, Leona Ludwig, Mara Ludwig, Aileen Meyer, Laura Meyer, Anne Pößnicker, Johanna Riedl, Jojdith Ritter, Miriam Ritter, Simon Schock, Felix Schmidt, Hanna Steigerwald, Tamara Ströhlein, Johanna Urban. Elfenvolk: Sophia Tiede, Sophie Damerow, Johanna Riedl, Laura Meyer, Mara Ludwig, Hanna Alberter, Aileen Meyer, Judith Ritter, Miriam Ritter, Jana Ludwig, Leona Ludwig, Mara Hüttinger. Sprecherchor: Monika Beringer, Kai-Uwe Biederbeck, Sabine Biederbeck, Verena Friedel, Waltraud Fuchs, Edith Heckel, Lara Huth, Erwin Knoll, Marianne Koller, Angela Laumer, Tina Kraft, Andrea Kunze, Rainer Lentz, Susanne Ludwig, Carola Maderholz, Claudia Malm, Alexa Rank, Cornelia Röhl, Hartmut Röhl, Edelgard Schmidt, Julia Templer, Nazgül Tajibaeva, Tina Trapp, Heike Winkelmeier, Anja von Wülfingen. Statisten: Fabian Edtinger, Heike Baumann, Klaus Hernecker, Thomas Kolb, Adrian Lungi, Claudia Pößnicker, Tamer Sahil, Luis Schmidt, Andrea Sarres, Luisa Wörrlein, Marc Zimmermann.

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