Von anfänglichen Ängsten zur Integration

1.10.2010, 15:04 Uhr
Von anfänglichen Ängsten zur Integration

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Die Verhältnisse im Wohnpflegeheim der Arbeiterwohlfahrt in Wengen mussten den Patienten aus den Langzeitstationen der psychiatrischen Kliniken wie ein Paradies vorgekommen sein. Jahrelang hatten viele von ihnen in Schlafsälen mit 20 und mehr Betten gelebt, in denen die Intimsphäre auf ein Nachtkästchen und einen Wäschespind reduziert war.

In Wengen gibt es seit mittlerweile 20 Jahren Doppelzimmer, Garten und – falls vom Krankheitsbild möglich – Ausgang und Arbeitsmöglichkeiten. „Die Lebenssituation von psychisch kranken Menschen in den Kliniken ist heute kaum noch vorstellbar“, sagt Irmgard Orterer und erinnert sich dabei an einen Heimbewohner, der nach 26 Jahren „Weggesperrtsein“ in der Klinik in Wengen aufgenommen wurde. Basis dafür war der Zweite Baye­rische Psychiatrieplan, demzufolge die Langzeitstationen an den Kliniken wie in Ansbach oder München-Haar aufgelöst und die Patienten in dezentral liegenden Einrichtungen betreut werden sollten – und zwar individuell auf sie und ihre Bedürfnisse zugeschnitten.

Der Psychiatrieplan war quasi die Initialzündung für das Wengener Pflegeheim, das der Awo-Kreisverband Roth-Schwabach vor zwei Jahrzehnten begründete – und zwar mit dem Kauf eines Anwesens, dessen Besitzer sich verschuldet hatte und der später selbst im Heim gepflegt wurde. Seitdem stehen in der Einrichtung 60 Betten in je zwei geschlossenen und offenen Wohnbereichen (die 2008 mit einem Erweiterungsbau den modernen Erfordernissen angepasst wurden) so­wie einer Integrationsgruppe zur Verfügung. Letztere bietet Arbeitsmöglichkeiten im Tierhof des Heims und ist das Sprungbrett nach „draußen“ in ein weitgehend selbstständig geführtes Leben.

Sechs Frauen und Männer schafften diesen Sprung im vergangenen Jahr und leben jetzt in einer der Wohngruppen. Drei dieser Gruppen befinden sich in Weißenburg, zwei in Nennslingen und eine in Thalmässing.

Wengen als Basishaus

„Wir verstehen uns hier in Wengen als Basishaus zur Stabilisierung und Förderung unserer Bewohner.“ Für manche wird die Einrichtung auf dem Jura eine Heimat auf Dauer – wie etwa für jenen Mann, der seit 19 Jahren in Wengen betreut wird. Für andere ist die dortige Integrationsgruppe ein „Sprungbrett in die Selbstständigkeit“, wie Irmgard Orterer betont. Jene 38 Menschen in den Außenwohngruppen werden aber weiterhin betreut. „Oft muss man nur einmal die Woche nach dem Rechten sehen.“ Die Heimleiterin, die seit der ersten Stunde in Wengen arbeitet, hat gute Erfahrungen mit dem seit 1993 an­gebotenen betreuten Wohnen in den sechs Außengruppen gemacht. „Wenn es jemandem schlecht geht und er Hilfe braucht, reagieren die Mitbewohner und rufen bei uns an.“ Das rund um die Uhr besetzte Wohnheim kann dann entsprechend agieren und den Patienten wieder auffangen und aufnehmen.

Von anfänglichen Ängsten zur Integration

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Den Erfolg der Wohngruppen macht Irmgard Orterer nicht nur an der Tatsache fest, dass so gut wie jeder Platz besetzt ist, sondern auch daran, dass die Vermieter der Anwesen dem Awo-Heim immer wieder Räume für weitere Gruppen anbieten. Auch die Hausbesitzer scheinen zufrieden zu sein, zumal es in Weißenburg, Nennslingen und Thalmässing kaum Probleme mit den Wohngruppen gibt. Im Gegenteil: Viele der Bewohner sind mittlerweile wieder zurück in der „normalen“ Gesellschaft.

„Ich habe 17 Jahre in Wengen gelebt und wohne jetzt in Thalmässing in einer betreuten Wohngemeinschaft. Dort gefällt es mir sehr gut. In der Dorfgemeinschaft bin ich gut integriert, alle wissen von meiner Erkrankung und haben mich total gut aufgenommen“, berichtet etwa ein Mann in der Festschrift zum 20-jäh­rigen Bestehen des Awo-Heims, die zum Festakt am heutigen Freitag (Beginn um 14 Uhr) aufliegt. Dabei gab es anfänglich bei vielen Bürgern in Wengen doch Ängste und Vorbehalte, zumal in der Gründungszeit des Heims auch noch rund 40 Asylbewerber in dem 200-Seelen-Ortsteil von Nennslingen untergebracht waren. Doch heute sind Pflegeheim und dessen Bewohner akzeptiert, viele Frauen aus dem Dorf und der Umgebung fanden dort Arbeit und machen diese gerne.

Hinzu kommen fast ständig sieben Ausbildungsplätze von der Heilerziehungspflege bis zur Hauswirtschaft. „Die Hälfte unserer 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist seit mehr als zehn Jahren bei uns“, hob Irmgard Orterer hervor. Wiede- rum die Hälfte davon ist seit der ers- ten Stunde an Bord. Ein Grund dafür mögen die fle­xiblen Arbeitszeitmodelle im Drei-Schicht-Betrieb sein, ein anderer das Arbeitsklima und die Freundschaften, die in den Jahren mit den Bewohnern entstanden sind.

Ein Aspekt ist sicherlich auch die Förderung der Mit- arbeitergesundheit durch Raucher­prävention, gesunde Ernährung, gesundheitsgerechtes Bewegungsverhalten und psychische Gesundheit, für die das Awo-Heim von „Move Europe“ ausgezeichnet wurde. Und es gibt einen Bereich, in dem die Grenzen zwischen Mitarbeiter und Bewohner nicht vorhanden sind. Im „Kost-nix-Raum“ kann jeder nicht mehr gebrauchte Sachen abgeben oder mitnehmen, was ihm gefällt. So ist ein buntes Sammelsurium zusammengekommen, das auf zwei Zimmer verteilt ist. Eines davon beherbergt eine nahezu ungeordnete Bibliothek, in der sich Patienten gleichermaßen Bücher ausleihen oder nehmen können wie die Mitarbeiter. Orterer: „Etliche de­cken sich da vor dem Urlaub noch mit Lesestoff ein.“