Beeindruckendes Konzert am Gymnasium in Weißenburg

Wenn Züge zu Musik werden

Markus Steiner

Weißenburger Tagblatt

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6.4.2022, 16:01 Uhr
Außergewöhnliches Jugendkonzert in der Schulmensa des Werner-von-Siemens-Gymnasiums: Moderatorin Nina Amon übte mit den Neunt- und Zehntklässlern die Sprechgesänge für das Stück „Different Trains“ ein, das Steve Reich 1988 komponiert hat.  

© Markus Steiner, WT Außergewöhnliches Jugendkonzert in der Schulmensa des Werner-von-Siemens-Gymnasiums: Moderatorin Nina Amon übte mit den Neunt- und Zehntklässlern die Sprechgesänge für das Stück „Different Trains“ ein, das Steve Reich 1988 komponiert hat.  

Steve Reich erinnerte sich für seine Komposition an die Zugfahrten in seiner Kindheit zwischen Los Angeles und New York ein, wo seine getrennt lebenden Eltern wohnten. Er stellte sich die Frage, wie es wohl anderen Kindern ergangen sein könnte, die in der gleichen Zeit zwischen 1939 bis 1941 in den Zügen saßen, die zur gleichen Zeit die Konzentrationslager der Nazis ansteuerten: different trains.

An das Werner-von-Siemens-Gymnasium geholt hat das Projekt Musiklehrerin Anne-Marie Kruis, die sich für das eindrucksvolle Jugendkonzert beworben und den Zuschlag erhalten hatte.

Ihr Musikkurs Q11 bereicherte die Aufführung mit Wortbeiträgen, aktuellen Songs (u. a. „Wozu sind Kriege da?“ von Udo Lindenberg) und Bildern, die zwischen die drei musikalischen Sätze eingestreut wurden: Amerika vor dem Zweiten Weltkrieg, Europa im Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit.

Die gesamte Komposition ist eine Collage aus Sprachfetzen („different trains, different trains“, „Germans invaded Hungary“ oder „The war is over“), Tönen (Zuggeräusche, Luftalarm-Sirenen, Fahrgeräusche) und Klängen, die von Reich mit dem Tonband aufgenommen wurden oder durch sein „Sampling Keyboard“ geschickt wurden. Die Zuggeräusche werden von den Streichinstrumenten täuschend echt imitiert. Die Bratsche schafft es beispielsweise mit nur zwei Tönen und einem klagenden Vibrato im zweiten Satz den Text „They shaved us, they tattooed a number on our arm“ (Sie rasierten uns und tätowierten uns eine Nummer auf den Arm) treffend zu untermalen und eine leidvolle und düstere Atmosphäre aufzubauen.

Schulleiter Wolfgang Vorliczky hatte jedenfalls in seiner Begrüßung, in der er das Konzert als „hochinteressant“, „eindrucksvoll“ und „außergewöhnlich“ bezeichnet hatte, nicht übertrieben und bedankte sich bei den Musiklehrerinnen Anne-Marie Kruis und Ulrike Haag für die Vorbereitung des außergewöhnlichen Musikunterrichts, den am Dienstag insgesamt gut 250 Neunt- und Zehntklässler genießen durften.


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Die empfanden Reichs Komposition ebenfalls als „beeindruckend“, „bewegend“, „fesselnd“, „düster“ oder „traurig“ und hatten am Ende der rund 75-minütigen Darbietung einen eindringlichen Appell parat: „Wir sollten alles tun, um den Frieden zu bewahren.“ Ein Aufruf, der durch das Symbolbild schlechthin, eine Friedenstaube, bildlich ergänzt wurde. Ein paar Takte zuvor hatten drei Verszeilen an die oft unterschätzte Macht der Musik und eine Anekdote erinnert, die sich tatsächlich so zugetragen haben soll: Der wundervolle Gesang eines kleinen Mädchens im KZ rührte selbst die herzlosen Nazi-Schergen an, sodass sie verschont wurde und überleben durfte.

Virtuoses Streichquartett: Daniela Jung, Marije Grevink, Christiane Hörr-Kalmer und Jan Mischlich-Andresen (von links).  

Virtuoses Streichquartett: Daniela Jung, Marije Grevink, Christiane Hörr-Kalmer und Jan Mischlich-Andresen (von links).   © Markus Steiner, WT

Ein Konzert, das auch die Schüler bewegte, die aufmerksam zuhörten und zwischendrin und auch danach Fragen an die Musiker und die Moderatorin stellen durften. „Ist das ihr Hauptberuf?“, will beispielsweise ein Schüler von den Streichern wissen. Die Antwort: „Ja, wir sind glücklich, dass wir unsere Leidenschaft zum Beruf machen konnten.“

„Gefällt euch das Stück eigentlich selbst?“, will ein anderer wissen. Und auch diese Frage wird ehrlich und differenziert von Jan Mischlich-Andresen (Cello) beantwortet. Auch er finde das Stück sehr berührend, vor allem in der „klassischen Verpackung“. Seine Kollegin an der Violine, Marije Grevink, antwortet auf die Frage, ob sie diese Musik auch privat höre: „Nicht nebenbei beim Kochen.“ Die Komposition sei ja extra für ein Konzert geschrieben worden, das man live hören müsse. Und Christiane Hörr-Kalmer (Viola) antwortet ehrlich, dass sie froh sei, wenn es zu Hause auch einmal ganz still sei.


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Musiklehrerin Anne-Marie Kruis kann am Ende des Tages, als der Schulgong Punkt 12.30 Uhr dazwischengrätscht, erleben, wie aus überaus interessierten und engagierten Schülern wieder ganz normale Schüler werden, die nicht mehr andächtig und mucksmäuschenstill einer extravaganten Komposition lauschen, sondern nur noch daran denken, dass sie ihren Bus oder ihre Bahn erreichen oder zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein müssen. Aber immerhin haben es Steve Reich und die vier Symphoniker geschafft, die Schüler 90 Minuten lang in ihren Bann zu ziehen. Recht viel mehr kann man als Lehrer nicht erreichen.

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