Wenn die Kasse nicht mehr zahlt

10.7.2019, 18:54 Uhr
Wenn die Kasse nicht mehr zahlt

© Foto: Daniel Hertwig

Es ist wohl eine der schwierigsten Fragen im Leben: Wie geht es mit meinen Eltern weiter, wenn sie wegen ihres Alters oder Krankheiten auf Hilfe angewiesen sind, nicht mehr in den eigenen vier Wänden wohnen können? Neben den Emotionen, die dabei hochkommen, stehen Angehörige auch vor organisatorischen und finanziellen Herausforderungen. Bei Alten- und Pflegeheimen schwingt zudem bei vielen die Frage mit: Ist Mama da wirklich gut aufgehoben? Bekommt Papa dort die Aufmerksamkeit, die er braucht?

Alternativen zum Heim werden deshalb immer beliebter. Gerade für Demenzkranke sind in den vergangenen Jahren viele ambulant betreute Wohngemeinschaften entstanden. So eine Demenz-WG unterscheide sich sehr von einem Pflegeheim, findet etwa Doris Blöchel. Sie hat sich dafür entschieden, ihre Mutter in der Nürnberger WG "Leben wie im Kirschgarten" unterzubringen. Die demenzkranke Seniorin werde hier gut versorgt, ist Blöchel sich sicher. Bei ihrem Vater, der den Lebensabend in einem Heim verbrachte, sei das nicht immer so gewesen.

Doch nun fürchtet Doris Blöchel – und mit ihr viele andere Angehörige von Demenzkranken in Mittelfranken – um die Zukunft dieser Wohnform. Der Grund: Ärger mit den Krankenkassen, vor allem mit der AOK Bayern. Denn die größte Kasse des Freistaats – nach eigenen Angaben deckt sie 40 Prozent des Markts ab – will die Kosten für die häusliche Krankenpflege nicht mehr übernehmen. Es geht etwa um die Gabe von Medikamenten. In den Demenz-WGs erledigen das ausgebildete Fachkräfte von Pflegediensten.

Verordnet werden diese Tätigkeiten von einem Arzt. Jahrelang hatte die AOK, wie auch andere Versicherungen, anstandslos bezahlt. Doch seit einigen Monaten verschickt die Kasse Briefe, die es in sich haben. In zwei Schreiben, die der Redaktion vorliegen, teilt die AOK Bayern etwa mit, dass sie die Medikamentengabe nur für eine Woche statt für ein ganzes Quartal zur Verfügung stellt. Auf die gesetzlichen Zuzahlungsregelungen seien die Patientinnen "entsprechend hingewiesen" worden. Dabei beruft sich die AOK auf zwei Urteile des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2015. Demnach, so schreibt die Kasse, sei "selbst bei fehlendem medizinisch geschulten Personal die einfachste Behandlungspflege in jedem Fall durch das Präsenzpersonal sicherzustellen". Mit anderen Worten: Medikamente müssten nicht von Pflegerinnen verabreicht werden, dies könnten auch Hauswirtschafterinnen übernehmen. Auf Anfrage unserer Zeitung heißt es von der AOK weiter: "Ambulante Wohngruppen sind keine stationären Einrichtungen, sondern gelten juristisch wie Wohnen im eigenen Zuhause." Und weil zu Hause die Angehörigen ranmüssten, sei in der WG das "Betreuungspersonal" zuständig.

Wer wie Doris Blöchel eine Angehörige in einer Demenz-WG hat, müsste ihr demnach selbst teils mehrmals täglich die Tabletten geben – oder eben zusätzlich bezahlen. Das kann teuer werden: Von etwa 200 Euro im Monat für die einfache Medikamentengabe bis hin zu etwa 1200 Euro, wenn auch Verbände gewechselt und Kompressionsstrümpfe angezogen werden müssen. Ihre Mutter, sagt Blöchel, habe "keine so schlechte Rente", aber solche Summen seien nicht drin.

So wie Blöchel äußern sich auch weitere Angehörige von Demenz-WG-Bewohnern aus der Region. Sie können es nicht fassen, dass die AOK die Leistungen nicht mehr finanzieren will. "Man wird alleingelassen", klagt eine Frau, die anonym bleiben möchte. Ihre Mutter ist vergangenes Jahr in eine WG in Höchstadt an der Aisch eingezogen. Alles sei durchgerechnet gewesen – und nun solle sie plötzlich 400 Euro im Monat mehr für die Medikamentengabe zahlen. Das könne sie nicht lange schultern. "Mama hat lange gebraucht, um sich einzugewöhnen." Wenn sie nun wegen der Kosten erneut umziehen müsste, wäre das "der Horror", so die Tochter.

"Menschenverachtend" findet das Birgit Bayer-Tersch. Die Geschäftsführerin des Evangelischen Gemeinde- und Wohltätigkeitsvereins Cadolzburg berichtet von fünf Fällen in zwei WGs vor Ort, in denen die AOK Leistungen eingestellt hat. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Rechnungen, die sie eigentlich an die Angehörigen weiterreichen müsste. Sie bringe es aber noch nicht übers Herz.

Wenn meine Mutter erneut umziehen muss, wäre das der Horror

Grund zur Hoffnung gibt den Angehörigen, dass das Sozialgericht Nürnberg, bei dem zu diesem Thema derzeit circa 20 Verfahren aus Mittelfranken laufen, in einem Fall eine einstweilige Verfügung erlassen hat, wonach die AOK die Leistungen vorerst weiterzahlen muss. Die Kasse wiederum führt zwei anderslautende Entscheidungen des Sozialgerichts Bayreuth an. "Nachdem es zwischenzeitlich unterschiedliche Rechtsprechungen gibt, hoffen wir auf eine rasche höchstrichterliche Entscheidung", so die AOK auf Anfrage.

Die WG-Befürworter halten die Urteile aus Bayreuth aber nicht für relevant, da sie sich auf eine andere Zielgruppe Pflegebedürftiger bezögen. Die Sprecherin des Selbstbestimmungsgremiums der Nürnberger WG, Margit Döring, ist sich sicher: Laut Sozialgesetzbuch muss die Kasse zahlen. "Ich weiche keinen Zentimeter zurück", betont sie, deren Mutter ebenfalls in der WG lebt.

Sie alle hoffen, dass die Angehörigen nicht auf den Kosten sitzenbleiben. "Wenn das so weitergeht, ist es das Ende der WGs", sagt etwa Pia Fratoianni, die für "Heidis Hauskrankenpflege" in Langenzenn im Kreis Fürth arbeitet. Dass auch Hauswirtschaftskräfte die Medikamente verabreichen könnten, verneinen sie kategorisch. Es gehe um Psychopharmaka, die oft Nebenwirkungen verursachen, erklärt Anna Pollak vom Verein Caritas-Sozialstation und Tagespflege Nürnberg-Nord. Das könnten nicht diejenigen erledigen, die sonst kochen, waschen und putzen. Und sie wollten es auch nicht, ergänzt Birgit Bayer-Tersch aus Cadolzburg. Oft seien sie Quereinsteigerinnen.

Anders als etwa Ursula Hoh, die als Krankenschwester bei der Caritas die Nürnberger Demenz-WG betreut. Nicht immer seien die Demenzkranken sofort bereit, die für sie vorgesehenen Tabletten zu schlucken. Da brauche es Geduld. Zudem muss Hoh beobachten, wie die Bewohner auf die Medikamente reagieren. Solche Tätigkeiten müssten "zwingend" von Fachkräften verrichtet und "definitiv" von den Kassen bezahlt werden, sagt der pflegepolitische Sprecher der Grünen im Landtag, Andreas Krahl. Beschwerden sind ihm nur aus dem fränkischen Raum bekannt, nicht aus Süd- oder Ostbayern.

Und was macht München? Das Gesundheitsministerium werde "die weitere Entwicklung zu den Behandlungspflegeleistungen im Blick behalten und ist diesbezüglich – auch wegen der genannten Fälle – mit der AOK im Gespräch", sagt ein Sprecher. Das Ministerium sei bereits im Februar 2017 erstmals "mit der Thematik befasst" gewesen. "Bisher sind uns Einzelfälle bekannt." Laut dem Sprecher "bezweifelt" das Ministerium, dass Präsenzkräfte "grundsätzlich" für Aufgaben aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung zuständig sind. Rechtlich sei das aber noch offen, weshalb man auch nicht eingreifen könne.

Der Ball liegt also bei der Justiz. Sollte sie zum Nachteil der WG-Bewohner entscheiden, müsse der Gesetzgeber handeln, findet die Erlanger Bundestagsabgeordnete und Patientenbeauftragte der SPD, Martina Stamm-Fibich. Gegebenenfalls wolle sie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einschalten, so die Politikerin, die von zwölf Betroffenen aus ihrem Wahlkreis weiß. Aus anderen Bundesländern kennt sie keine solchen Fälle wie aus Franken. Sie meint: "Der Charakter dieser WGs ist gerade bei Demenz äußerst zielführend."

Die Idee der Demenz-WGs kommt indes auch bei der AOK gut an. "Zugleich bedauern wir, dass AOK-Versicherten, die in ambulanten Wohngruppen leben, Leistungen für einfachste medizinische Behandlungspflege teilweise in Rechnung gestellt werden", schreibt die Kasse auf unsere Anfrage. "Die Versicherten werden dadurch unverschuldet in eine Auseinandersetzung zwischen der AOK Bayern und dem Träger der ambulanten Wohngruppe hineingezogen."

Das dürfte die Betroffenen, die Rechnungen von mehreren Hundert Euro erhalten haben, kaum besänftigen. Sie sehen die AOK in der Pflicht. Heute um 10 Uhr will die Interessengemeinschaft der WGs deshalb vor AOK-Geschäftsstellen in Nürnberg und Neustadt/Aisch protestieren.

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