Der Blick zurück zeigt, dass zum Forschen immer auch der Irrtum gehört

7.4.2020, 17:48 Uhr
Der Blick zurück zeigt, dass zum Forschen immer auch der Irrtum gehört

© Foto: Christian Reiß

 In der Coronakrise werden die Menschen Zeugen davon, wie naturwissenschaftliches Wissen gewonnen wird: Forscher treffen erst Annahmen, dann prüfen sie sie und, sobald neue Daten vorliegen, verwerfen sie vielleicht wieder. Sie denken unterschiedliche Szenarien durch, weil niemand die genauen Ausgangsbedingungen kennt. "Das ist ein trauriger Moment, in dem man die Grenzen des Wissens sieht", sagt Christian Reiß, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Wissenschaftsgeschichte der Universität Regensburg, zur aktuellen Krise.

Zu sehen, wie vorläufig wissenschaftliches Wissen ist, ist für viele Menschen gerade sehr verunsichernd. Für Reiß ist diese Erkenntnis dagegen nichts Neues: "Gegen was wir als Wissenschaftshistoriker angehen, ist die lineare Vorstellung davon, wie Wissen zustande kommt", erklärt er. "Denn wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn ist ein mühevoller Prozess mit vielen Sackgassen."

Der Studiengang in Regensburg beschäftigt sich mit der Geschichte der Naturwissenschaften. Gerade in diesen Disziplinen verblassen im Rückblick die vielen Irrwege: Da gibt es in der allgemeinen Wahrnehmung oft nur die großen Genies wie Newton und Einstein, die immer Recht hatten.

Dabei sind Forscher zu unterschiedlichen Zeiten, wenn sie sich mit der gleichen Frage beschäftigt haben, immer auch zu unterschiedlichen Antworten gekommen. Die Erde galt lange als Scheibe und als Zentrum des Universums. Viele der Antworten haben sich im Nachhinein als falsch herausgestellt, waren aber für die damalige Zeit tolle Ideen.

Scheitern ist auch wichtig

Die Forscher früherer Jahrhunderte sind oft auch viel offener mit ihren Fehlschlägen umgegangen als heute. In ihren Veröffentlichungen erzählten sie, was sie ausprobiert haben, was funktioniert hat und was nicht. Dass dieser Geist verloren gegangen ist und eher nur noch positive Ergebnisse veröffentlicht werden können, wird an den heutigen Naturwissenschaften oft kritisiert. Gegenüber dem aktuell geltenden Wissen stellt sich bei dieser Betrachtungsweise schnell ein gewisser Relativismus ein: "Das Wissen, was wir gerade haben, ist das Beste, was wir haben", beschreibt Reiß. Aber längst nicht endgültig.

"Das Scheitern ist zentral dafür, wie Wissen entsteht", meint Reiß. Um das zu verstehen, schauen sich Wissenschaftshistoriker detailliert an, wie Forscher früher gearbeitet haben: Historische Veröffentlichungen, Archive von Universitäten und Forscher-Nachlässe mit Briefen, Manuskripten und Notizbüchern sind Quellen, aus denen Reiß und seine Kollegen ihr Wissen beziehen. Außerdem können auch historische Forschungsinstrumente untersucht werden, wenn sie in Sammlungen noch erhalten sind.

Die meisten Wissenschaftshistoriker spezialisieren sich auf eine Naturwissenschaft. Reiß zum Beispiel hat ein Biologiestudium abgeschlossen und forscht vor allem zur Geschichte der Biologie: So hat er in einer schon veröffentlichten Studie etwa die Geschichte des Axolotls – eine Lurchart aus Mexiko – als Labortier untersucht. Es gibt aber auch viele Entwicklungen, die in den einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen gleichzeitig stattfanden, zum Beispiel das starke Wachstum aller Fächer im 19. Jahrhundert. Viele Wissenschaftshistoriker arbeiten außerdem an Schnittstellen, zum Beispiel am Grenzbereich von Physik und
Philosophie in einem bestimmten Zeitraum.

Machtmissbrauch wie bei der Atombombe

Die Wissenschaftsgeschichte ist eine Wissenschaft der Wissenschaft – und damit ein Bereich, in dem Wissenschaft sich selbst reflektiert: Was heißt es, Wissen zu erschaffen? Wie soll das Wissen aussehen? Und wo sind die Grenzen dessen, was Wissenschaft machen darf? "Wissen hat eine so große Macht, dass es leicht missbraucht werden kann", erklärt Reiß. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Atombombe.

Doch auch abseits solcher großen ethischen Fragen bietet die Wissenschaftsgeschichte Gelegenheit zur Reflexion. In Regensburg kann das Fach im Bachelor als Nebenfach von allen Studierenden gewählt werden. "Die Studierenden lernen Methoden und Perspektiven, um auf ihr Hauptfach zu schauen und zu überlegen: Warum machen wir das so und nicht anders?", erklärt Reiß.

Für den Master gibt es einen eigenen Studiengang, der ebenfalls allen Interessierten mit Bachelor-Abschluss offensteht. Im Zusammenbringen der unterschiedlichen Perspektiven von Geistes- und Naturwissenschaftlern sieht Reiß eine große Chance des Studiengangs: "Die Studierenden merken, dass jedes Fach auf seine Art Recht hat, und entwickeln ein Verständnis für andere akademische Kulturen", erzählt er.

Ein ausgebildeter Wissenschaftshistoriker hat sehr gute Jobaussichten in wissenschaftsnahen Bereichen, zum Beispiel im Wissenschaftsmanagement, in Museen oder Sammlungen. "An vielen Universitäten werden gerade historische Sammlungen, die es an den Lehrstühlen gibt, mit eigenem Personal professionalisiert", erzählt Reiß. Auch an den Universitäten selbst ist der Nachwuchs gerade begehrt und es gibt gute Chancen für Absolventen, eine Promotionsstelle zu ergattern.

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