Die Grenzgängerin

12.3.2019, 17:41 Uhr
Kann man lernen, Schriftsteller zu sein? Die Universität Hildesheim sagte „ja“ und schuf den Masterstudiengang Literarisches Schreiben und Lektorieren, der mittlerweile einen festen Platz in der deutschen Literaturszene hat. Zu den Absolventen zählt auch unsere frühere Mitarbeiterin Sarah de Sanctis, die heute als freiberufliche Schreibtherapeutin tätig ist.

© Fotos: Julian Stratenschulte/dpa; privat; Bildbearbeitung: Lisa Polster Kann man lernen, Schriftsteller zu sein? Die Universität Hildesheim sagte „ja“ und schuf den Masterstudiengang Literarisches Schreiben und Lektorieren, der mittlerweile einen festen Platz in der deutschen Literaturszene hat. Zu den Absolventen zählt auch unsere frühere Mitarbeiterin Sarah de Sanctis, die heute als freiberufliche Schreibtherapeutin tätig ist.

"Sprache ist so wichtig, sie ist eine feste Verbindung zwischen den Menschen. Ich habe in meinem Leben viele Sprachen gelernt", sagt Sarah De Sanctis und streicht sich die langen, dunklen Haare hinter die Schulter. Mit Sprachen meint die 36-Jährige keine Fremdsprachen, sondern die Codes, die unterschiedliche Kommunikation, die verschiedenen Regeln in den jeweiligen Milieus, durch die sie bis heute gegangen ist.

"Bis zu meinem Hauptschulabschluss war ich in Brennpunktschulen", sagt De Sanctis. Zum Unterricht ging sie selten. Manchmal aus Angst, oft weil Schule sie langweilte. "Im Nachhinein wundert mich das nicht. Was soll das denn für ein Lernen werden, wenn man weiß, dass man nach der Schule verprügelt wird? Da würde ich auch heute noch schwänzen."

"Es grenzte an ein Wunder, dass manche den Abschluss in der Hauptschule überhaupt geschafft haben", erinnert sich Sarah. Das führt sie aber nicht auf Dummheit ihrer Mitschüler zurück, "die hatten richtig die Kacke am Dampfen zu Hause."

Es fehlt Sarahs Meinung nach an Orientierung, für die Eltern oft nicht sorgen können, weil sie selbst keine haben. "Wie soll sich denn ein junger Mensch entwickeln, wenn da niemand Vernünftiges im Umfeld ist? Oft lernen diese Kinder nicht mal mit ihren Gefühlen umzugehen, geschweige denn lernen sie, wie man lernt."

"Ich wusste nicht, wohin mit mir"

Sarah fing eine Ausbildung zur Arzthelferin an und brach sie ab. Sie machte eine Ausbildung im Büro, blieb aber nie lange in einem Job. "Ich war todunglücklich, wusste aber überhaupt nicht, wohin mit mir", sagt sie und schüttelt den Kopf. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie "diesen Weg nicht weitergehen wollte".

Sie holte das Abitur nach – um danach wieder nicht zu wissen, was sie wollte: "Die meisten Jugendlichen aus meinem Ursprungsmilieu haben nicht die leiseste Ahnung davon, wie ihr Leben anders aussehen könnte, weil Vorbilder fehlen."

Besonders bei Frauen sieht Sarah die Problematik, dass sie in eine Passivität hineingeboren und auch passiv gehalten werden. "Ich habe Jahre gebraucht, um mir dessen bewusst zu werden und herauszufinden, was ich alles mit meinem Leben anfangen kann." Geschlecht und Herkunft spielen für Sarah die entscheidende Rolle. "Das ist ja die Basis von allem, was ich tue: Welche Optionen werden mir denn vom Leben serviert, wenn ich als Frau mit Migrationshintergrund aus dem Arbeitermilieu oder einem bildungsfernen Haushalt stamme? Da gab es nicht viel bei mir."

Je energischer Sarah ihren eigenen Weg ging – erst durch ihr Bachelor-Studium im Fach Ressortjournalismus in Ansbach, dann beim Master—Studium am Literaturinstitut in Hildesheim – desto mehr Kritik hatte sie auszuhalten. Alle hatten eine Meinung über sie, die sie ungefragt zum Besten gaben, vor allem die Männer.

"Früher war ich zu dick, zu dünn, zu hässlich, zu dumm, meine Haare waren zu lang oder zu kurz." Sarah litt unter den vielen Bewertungen, denen sie ausgesetzt war und ist. Mit dem Milieuwechsel änderte sich das nicht. "Sexismus gibt es in jedem Milieu, der wird nur subtiler mit höherem Bildungsstand."

Zum Glück gab es auf ihrem Weg auch andere Menschen. "Ohne Förderung, vorwiegend von Männern, wäre ich nicht so weit gekommen. Ohne Förderer kannst du es vergessen!" Dazu gehört für Sarah auch die Förderung von Menschen, die nicht die soziale, finanzielle oder auch psychische Stabilität aufweisen, die für andere aus gutbürgerlichem Haus selbstverständlicher ist.

"Diese Personen haben in der Regel ein viel höheres Entwicklungspotential und dadurch auch eher die Chance, über sich hinauszuwachsen – und das immer wieder. Denn wenn man einmal diesen Prozess verinnerlicht hat, kann man das Wachstum wiederholen, dazu muss man aber erst mal die Chance bekommen."

Finanziell sah es bei Sarah nie gut aus. Sie beantragte Bafög und nahm Kredite auf. Ihren Bildungsweg konnte sie nur etappenweise gehen, und sie arbeitete immer wieder Vollzeit.

Neben der finanziellen Stütze fehlte auch die psychische. "Ich hatte immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein, oder mich für irgendetwas schämen zu müssen. Da lügt man schon mal, wenn es um Herkunft geht, gerade in dem elitären Bereich, in dem ich mich inzwischen bewege."

Sarah sah sich lange Zeit gezwungen, sich in alle Richtungen zu verteidigen. Denn für die einzige Akademikerin in der Familie hagelte es auch hier Kritik. "Der Witz an der Sache ist, dass jedes Milieu Vorurteile gegenüber dem anderen hat; Studenten sind faul und Hauptschüler dumm. Beides ist Blödsinn."

Am Literaturinstitut waren alle bis dahin gelernten sozialen Codes auf einmal nutzlos. "Nicht mal die vom Journalismus-Studium haben funktioniert. Ich stand da und habe nicht verstanden, was die Leute gesagt haben. Ich fühlte mich wie ein Alien."

Sarah blockierte sich durch ihre Ängste und ihre Scham selbst und kam nicht weiter. "Ich war gezwungen, mich den Ursprüngen zu stellen. Ich habe mich intensiv mit meiner Herkunft befasst und den Spannungsfeldern, in denen ich unterwegs war."

Zum Milieuwechsel gehört auch eine Abgrenzung vom Ursprung. "Das fühlt sich an, als würdest du dir ein Bein abhacken. Grenzen zu überwinden ist schwer, wird aber immer belohnt", sagt sie. Mit Hilfe von Autoren, die Ähnliches erlebt haben, wie etwa Didier Eribon, und durch das Schreiben konnte Sarah die Hürden überwinden.

Während ihres Master-Studiums hat sie sich neben dem Literarischen Schreiben auch mit Autobiografischem und Kreativem Schreiben zur Selbsterfahrung befasst. "Ich habe mich gefragt: Wie komme ich an vergrabene Erinnerungen ran und wie verarbeite ich sie psychisch und literarisch?"

Intensive Selbsterfahrung

Sie stellte fest: "Es gibt verschiedene Schreibtechniken, mit denen man wunderbar eigene Grenzen erkennen und überschreiten kann." Diese Erfahrung war so bedeutsam für sie, dass sie sie weitergeben möchte. In Schreib-Workshops sieht sie mit den Klienten auf die blinden Flecken, die jeder Mensch hat.

"Das ist eine intensive Selbsterfahrung, die sehr sensibel durchgeführt werden sollte, am besten unter Anleitung." Das lernte Sarah bei ihrer Ausbildung zur Schreibtherapeutin in Berlin. "Ich gehe mit den Menschen immer nur so weit, wie es gut für sie ist." Ihre Selbsterfahrung half Sarah auch dabei, den schwierigen Code in Hildesheim zu knacken. Jetzt beherrscht sie eine weitere Sprache und kann in den unterschiedlichen Milieus kommunizieren."

Vor allem weiß Sarah, dass es im Leben ums Dranbleiben geht. "Einfach immer weitermachen, auch wenn du manchmal verzweifelst. Irgendwann klappt es!"

 

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