LiteratuReise: Heiliger Stephanus, bitte für sie

8.10.2018, 15:03 Uhr
Szene aus dem Film "Tanöd" nachf dem gleichnamigen Besteller-Krimi von Andrea Maria Schenkel

© Constantin Szene aus dem Film "Tanöd" nachf dem gleichnamigen Besteller-Krimi von Andrea Maria Schenkel

Heute ist auf den ersten Blick nichts mehr zu spüren. Keine gruselige, schauerliche Umgebung, keine düsteren Höfe und schreienden Tiere. Keine beängstigende Stille in der Nachbarschaft vom Mordschauplatz Hinterkaifeck.

Während ich durch den Ort schlendere und mich meinen Gedanken hingebe, bemerke ich, dass längst die Neuzeit ihren Platz eingenommen hat. Tobende Kinder auf der Straße, Erwachsene, die es eilig haben und schnell fahrende Autos, trotz 30er Zone.

Eine frische, angenehme Brise weht durch mein Nackenhaar. Wie aus dem Nichts stellt es sich auf, wenn ich nur daran denke, wozu ich eigentlich hier bin.

Ich möchte mehr vom bekanntesten Mordfall Süddeutschlands wissen, den Mord an der Bauernfamilie Gruber/Gabriel vom Einödhof Ende Mai im Jahre 1922. Alle sechs Familienmitglieder – mit der Spitzhacke auf dem eigenen Bauernhof erschlagen.
Hinterkaifeck war zu damaliger Zeit die lokal übliche Bezeichnung für den Hof der Familie und schloss keine weiteren Höfe mit ein. Meine Hoffnung, den Bauernhof und seine düstere Vergangenheit besichtigen zu können, verpuffte, als ich durch meine Recherche herausfand, dass das Anwesen direkt ein Jahr nach der Tat abgerissen wurde. Eine Familie und ihr Zuhause. Alles weg. Der Standort des Hofes befand sich im heutigen Gröbern, Teil des Gemeindegebiets Waidhofen in Oberbayern, circa sechs Kilometer von Schrobenhausen entfernt.

Bei meinem Spaziergang durch den Ort Gröbern setzte ich mich neben einem alten Mann auf eine Bank. Ich schaute ihn an und dachte mir, er sei alt genug und wüsste bestimmt etwas über das Geschehnis. Als ich ihn darauf ansprach, entgegnete er mir aufgebracht: „So ein junges Ding wie du sollte sich nicht mit solchen Gruselgeschichten abgeben!“, und fuhr dann fort: „Ich weiß nichts über den Fall, keiner weiß was. Obwohl er ungeklärt ist, beschäftigt er aber noch viele – zumindest die Alten. Nehmen Sie´s mir nicht persönlich, aber wenn es Leute nur aus Sensationslust hierher verschlägt, geht mir das auf den Geist.“ Es überrascht mich, dass diese morbide Art von Tourismus mehr Schaden anrichtet, als der Mord selbst. Es ist wohl das Ungeklärte, was besonders reizvoll ist.

Andrea Maria Schenkel, Hausfrau aus Regensburg, verfiel dem geheimnisvollen Bann ebenso. Sie schrieb den historisch-dokumentarischen Krimi-Bestseller Tannöd. „Über die Idee bin ich gestolpert. Es war ein Zeitungsartikel in der Süddeutschen Zeitung. Mich hat diese Geschichte von diesem wahren Mordfall interessiert.“ Ihre Darstellung lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Detailliert und meisterhaft bietet sie einen erschreckenden Blick in die dunklen Abgründe der menschlichen Seele – basierend auf wahren Begebenheiten.

Zu den entsetzlichen Fakten: Es ist Ende Mai, als die sechsköpfige Familie und die neue Magd auf dem abgelegenen Hof auf bestialische Weise erschlagen werden. Der Täter unbekannt. Er muss, laut Polizeibericht, eine rasende Wut auf die Familie gehabt haben, denn nicht einmal vor dem zweijährigen Josef machte er Halt. Das Buch und der dazugehörige Film zeigen die Familie, insbesondere den Vater, als mürrisch und geizig. Ob das zutrifft, ist Ansichtssache… Besonders schlucken lassen mich Nachweise von Misshandlungen und lang andauernde Inzestfälle innerhalb des Familienkreises. Hass, Missachtung und das Grauen des düsteren Bauernhofes der bayerischen Provinz dominieren die Geschichte.

Ich bin nun in der Eybergstraße angekommen. Von hier aus gelange ich auf einen Feldweg. Angeblich sieht man schon von hier aus die ein paar hundert Meter weiter freistehende Wetterfichte. Ganz in ihrer Nähe vermutet man den Mordhof. Ich blicke nach oben. Die Kronen der Fichten schwingen hin und her, die Sonne blitzt durch und lässt mich wohlfühlen. Beinahe verfalle ich eine Hypnose. Doch da verpasse ich mir die Realitätsohrfeige.

ch befinde mich gerade ungewollt auf einer dunklen Zeitreise und wieder tauchen einzelne Fantasiefetzen der Tatnacht in meinem Kopf auf. Die Gänsehaut fährt mir über den gesamten Körper, erneut setzt der Nackenschauer ein. Die läutenden Kirchenglocken erinnern an unheimliche Gebete während eines Filmes, die dem Gruselmoment noch die letzte Note verleihen. „Vater unser, der du bist im Himmel“. An einem Ort des Friedens hat der Teufel Einkehr gehalten. Ich habe Angst, mich zu bewegen. Ich stehe jetzt ganz alleine an jenem Ort, wo sechs Menschen im Blutrausch kaltblütig und auf brutalste Weise getötet wurden. Und keiner weiß, wer´s war.

Die große Frage nach dem „Warum“ fesselt auch heute noch Menschen von überall. Nicht nur Andrea Maria Schenkel nahm sich dem Unfassbaren an. Podiumsdiskussionen und Theaterstücke, die den Fall wortwörtlich sezieren, lassen die ungeklärten Mordgründe nicht ruhen. Immer noch gibt es Vermutungen, Anschuldigungen und Verdächtigungen.
Ungeklärte Fälle lassen enorm viel Spielraum für kreative Fantasien und Verschwörungstheoretiker.

Wie der Fall der berühmten Marilyn Monroe: War es Suizid, ein Unfall oder eiskalter Mord? John F. Kennedy: Wurde er von einem oder mehreren Tätern erschossen? Gab es am 11. September 2001 bereits Anschlagskomplizen auf amerikanischem Boden? Es ist wie ein Faden, den man immer weiter spinnen kann. In Gröbern, am vermeintlichen Tatort, kann ich nun selbst nicht damit aufhören, Antworten herbeizugrübeln.

Die nervenaufreibende und intensive Spannung – insbesondere auf eigener Gefühlsebene – kann ich jetzt wirklich mehr als genug spüren. Sie fesselte wohl auch Frau Schenkel in ihrer Freizeit so sehr, dass sie ihre Verschnaufspause lieber dem dunklen Geheimnis von Hinterkaifeck widmete. „Ich kann mich recht gut loslösen. Es ist wirklich so, dass das Schreiben eine andere Welt ist. Ich darf nur vorher nicht darüber nachdenken.“

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