LiteratuReise: Palermo sehen – und staunen

4.10.2018, 13:02 Uhr
Ein Bick vom Hauptkamm auf das südliche Ende des Monte Pellegrino, des Hausbergs von Palermo.

© Annalena Sippl Ein Bick vom Hauptkamm auf das südliche Ende des Monte Pellegrino, des Hausbergs von Palermo.

Ein guter Reiseführer will begeistern – er führt Besucher nur zu den schönsten Plätzen, serviert das beste Essen und unterhält mit den fantastischsten aller Geschichten.
Roberto Alajmo tut das nicht. Ich treffe ihn – gedanklich – am Quattro Canti, einer Kreuzung, an der alle wichtigen Straßen Palermos zusammenkommen – wie Venen, die zum Herzen führen. Der Platz ist eingerahmt von vier prachtvoll gestalteten Häuserfassaden, jede symbolisiert eine andere Jahreszeit.
Ich bin umgeben von Kathedralen, Palästen und weiteren prunkvollen Bauten. „Hier gilt der Grundsatz, man dürfe Altes nicht mit Modernem infizieren“, behauptet Alajmo missmutig und zieht mich davon.
Nur wenige Straßen weiter, im Viertel La Kalsa, findet der Besucher Verfall statt Vollendung vor. Ein klassischer Problembezirk. Zwischen heruntergekommenen Häusern türmen sich Ruinen auf, die seit den Bombenangriffen der Alliierten 1943 offenbar unberührt dort ruhen.
Zu dieser Zeit wuchsen hier die Mafia-Jäger Falcone und Borsellino auf, die in den 1990er Jahren bei Attentaten der Cosa Nostra ums Leben kamen. „Die Stadt ist gleich Mafia“, diese Gleichung hört Alajmo oft. Dabei gebe es hier noch so viel mehr, spottet er: Erdbeben, Überschwemmungen, Dürreperioden, Flüchtlingsboote, Arbeitslosigkeit und Vulkanausbrüche.
„Vom klassischen Sortiment literarischer Schicksalsschläge fehlt hier lediglich die Pest, doch es ist nicht gesagt, dass sich in naher Zukunft nicht auch in diese Richtung etwas arrangieren lässt“, schreibt er.
Auf unserem Weg durch die Stadt haben wir beide einen treuen Begleiter, der uns nie von der Seite weicht: den Lärm. Ob in dunklen Gassen oder auf der Flaniermeile Via Maqueda – Palermo kennt keine Ruhe.
Wir schlendern durch den Giardino Inglese, himmelhohe Palmen säumen den Weg, Kakteen, größer als Menschen. Am Fuße des Monte Pellegrino
– den Goethe einst „das schönste Vorgebirge der Welt“ getauft haben soll – liegt La Favorita, dem Namen nach der Lieblingspark der Sizilianer.
Anscheinend nicht. Alajmo erzählt von einem Toten, der hier an einen Baum gefesselt wurde, von Prostituierten und Dieben. Die Palermitaner kämen nur hierher, um ihre Hunde auszusetzen. La Favorita sei „der ideale Ort, um im Stich gelassen zu werden“, scherzt er.
Der Sizilianer erzählt mir von den Schwänen, die immer wieder aus dem Park Villa Giuila verschwanden. Ein Stadtkrimi, dessen Auflösung recht düster ist: Eine verarmte Familie hatte die Vögel wiederholt gestohlen, um sie zu essen. Langsam habe ich das Gefühl, dass ein gewisser Pessimismus zu Palermo dazugehört. Das zeigt auch das Beispiel der Santa Maria dei Naufragati, der Kirche der Schiffbrüchigen. Die Palermitaner sagen: die Kirche der Ertrunkenen.
„Die Stadt hat einen Hang dazu, sich besonders aromatisch und schmackhaft zu präsentieren“, erzählt Alajmo und führt mich auf einen der zahlreichen Märkte. Riesige tiefrote Tomaten liegen dort neben getrocknetem Oregano in der prallen Sonne.
Im Licht des farbigen Schirms wirken Garnelen so rot, als wären sie bereits gekocht. Fisch reiht sich an Fisch, sogar ein Katzenhai ist darunter. Er starrt mich aus leeren Augen an. „Die Verkaufsstände sind nicht nur das, was sie zu sein scheinen. Das sind auch Prüfstände.“
Beim Blick auf die Auslage des nächsten Tisches verstehe ich, was Alajmo meint. „Stigghiola“ heißen die gekochten Ohren, Mäuler und Gedärme vom Kalb. In einem Korb befinden sich „Frittola“, stets durch ein Tuch vor neugierigen Blicken geschützt. Selbst als gebürtiger Palermitaner kann Alajmo nicht genau sagen, was sich darunter verbirgt: „Knorpel vom Rind und vom Schwein“, vermutet er.

Sadistische Manöver

Mit dieser Tour vorbei an den frittierten Schlachtabfällen stelle man das Durchhaltevermögen der Besucher auf die Probe. „Aber warum?“, frage ich. Er zuckt mit den Schultern. „Fest steht nur, dass die Bewohner der Stadt aus diesen sadistischen Manövern eine Art schmerzhaftes Vergnügen ziehen.“
Ich denke an einen Satz, den mein Reiseführer auf dem Weg zum Markt fallenließ: „Die Einwohner der Stadt hegen die Überzeugung, extrem kompliziert zu sein.“ So langsam glaube ich, an dieser Vermutung ist etwas dran.
Ich bitte Alajmo, mir das Meer zu zeigen. Er lächelt kurz und führt mich dann die Via Vittorio Emanuelle hinunter. Als wir durch die Porta Felice schreiten, kann ich das Salzwasser bereits riechen. Da ruht es nun vor mir, das tiefblaue Meer.
Doch hier liegt kein feiner Sand, der trotz kühlem Wind dazu einlädt, die Schuhe abzustreifen. Stattdessen: Beton. Riesige, raue Felsblöcke, die den Blick auf die Wellen versperren. Blockade statt Promenade. Außer mir scheint das allerdings niemanden zu stören. „Die Einwohner der Stadt pfeifen auf das Meer“, erklärt mir Alajmo. „Sie haben beschlossen, ohne es auszukommen.“ Wortlos starre ich noch eine Weile auf das Wasser.
Es hat angefangen zu regnen. Ich sitze unter einem der steinernen Torbögen, die sich als Pfeiler eines Wanderweges den Monte Pellegrino hinaufschlängeln,„Ich verstehe diesen Ort nicht“, murmle ich. „Die Stadt ist manchmal zum Verzweifeln, doch fast nie verzweifelt“, sagt Alajmo.
Vor mir breitet sich Palermo aus, riesige Fähren liegen im Hafen, Hochhäuser wachsen in den Himmel. Auf den grünen Hügeln rund um die Stadt tanzen Lichtflecke einzelner Sonnenstrahlen. Es ist völlig still. Kein Hupen, kein Motorengeräusch, kein Stimmengewirr.
Zum ersten Mal, seit ich hier bin, schlage ich das Buch in meiner Hand zu. „Palermo ist eine Zwiebel“, hatte Alajmo im letzten Kapitel geschrieben. „Die erste Haut sollte entfernt werden, weil sie immer etwas zu grob ist, um bekömmlich zu sein. Mach weiter!“
 
 

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