Zur Person "Widerspruch ist absolut notwendig"

20.10.2020, 19:08 Uhr
Zur Person

© Foto: Kurt Fuchs/ZiWiS/FAU

Als hätten sie es geahnt. Experten der Uni Erlangen-Nürnberg haben ein Buch herausgegeben, in dem es um das Bild der Wissenschaft in der Öffentlichkeit geht. Vor Corona. Es handelt von Geltungsansprüchen, Selbstreflexion und Vertrauen – und ist damit noch aktueller als zuvor gedacht.

 

Herr Jungert, können Sie in die Zukunft schauen?

Tatsächlich haben wir genau die Themen behandelt, die jetzt noch wichtiger werden. Auch Pandemien kommen im Buch vor und Impfskeptiker. Es geht darum, dass sich Wissenschaft kritisch mit sich selbst beschäftigt und auch mit der Frage, was ihre Ergebnisse für die Gesellschaft bedeuten.

 

Die Corona-Pandemie hat diese Themen noch aktueller gemacht.

Gerade durch die Corona-Krise sehen wir, wie wichtig es ist, Wissenschaft auf andere Art und Weise zu kommunizieren. Wir müssen die Grundlagen von Wissenschaft vermitteln, auch ihre Fehlbarkeit und die Tatsache, dass Wissenschaft keine Instanz ist, die reihenweise unverrückbare, wahre Erkenntnisse produziert.

 

Auch Wissenschaftler machen Fehler?

Zumindest schreitet die Erkenntnis nicht linear fort. Es treten Widersprüche auf. Rückschläge sind normal. Doch das bedeutet nicht, dass Wissenschaft unzuverlässig ist. All das sind genau die Aspekte, die gerade in der öffentlichen Diskussion wichtig sind. Und wenn man diesen Diskurs nicht aktiv begleitet, führt das dazu, dass sehr kritische und skeptische Bewegungen entstehen, denen diese Mechanismen nicht bewusst sind.

 

Durch Corona beschäftigen sich aktuell so viele Menschen wie lange nicht mit Wissenschaftsthemen. Gleichzeitig wissen viele nicht, wie Wissenschaft funktioniert. Erleben Sie das auch?

Tatsächlich, ja. Man müsste so eine Art wissenschaftstheoretischen Crashkurs auf allen Gesellschaftsebenen verankern. Schon in der Schule und an den Universitäten. Etwa welche unterschiedlichen Methoden Forscher nutzen und warum Scheitern sogar produktiv sein kann. Selbst in den Gymnasien gibt es keine Unterrichtmodule, die das Funktionieren von Wissenschaft speziell thematisieren. Es gibt in Bayern aber Überlegungen, das Fach Philosophie zu stärken, da könnte man das vielleicht integrieren oder auch in Sozialkunde. Im Geschichtsunterricht könnten sich die Schüler anschauen, wie sich Wissenschaft entwickelt hat und welche Fort- und Rückschritte es da gab.

 

Gibt es Beispiele, wie Wissenschaftler sich geirrt haben?

Wenn man ehrlich ist, ist in vielen empirischen Wissenschaften das Scheitern im Kleinen das Tagesgeschäft. Sie stellen sich nun mal nicht ins Labor und haben am Ende des Tages einen großen Durchbruch. In der Regel missglücken die meisten Experimente. Der Arzt Ignaz Semmelweis etwa, der das Kindbettfieber entdeckt hat, konnte sich mit seinen Erkenntnissen zur Krankenhaushygiene zu seinen Lebzeiten nicht durchsetzen. Dabei gilt er heute als einer der Pioniere der sogenannten evidenzbasierten Medizin, die sich auf systematisch gesammelte Daten und Belege stützt. Semmelweis hat sich gegen den wissenschaftlichen Mainstream seiner Zeit gestellt. Niemand wollte glauben, dass Ärzte selbst an der Übertragung einer Krankheit beteiligt sein könnten.

 

Auch die Kritiker der Corona-Maßnahmen beschweren sich derzeit, dass ihre Ansichten im wissenschaftlichen Mainstream untergehen.

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Dem könnte man entgegnen, dass genau die Mechanismen, die sie an der Wissenschaft kritisieren – wie Widerspruch und Korrekturen – absolut notwendige Bestandteile sind. Es gibt Fälle, in denen Wissenschaftler abhängig von kommerziellen Interessen gehandelt haben. Und Fälle, in denen sie nicht sauber gearbeitet haben. Aber es ist nicht legitim, das zu verallgemeinern. Die beste Idee ist, offen damit umzugehen, Beispiele aufzugreifen und zu zeigen, dass sie nicht charakteristisch sind. Auch wenn Wissenschaft weit davon entfernt ist, fehlerunanfällig zu sein, ist sie trotzdem das beste erkenntnisproduzierende System, das wir haben.

 

Glauben Sie, dass Corona den Blick auf die Wissenschaft ändert?

Ich glaube, dass sie viel mehr in die Wahrnehmung von Menschen rückt, die sonst wenig damit zu tun haben. Das Thema berührt plötzlich das Leben von jedem. Deswegen fällt den Leuten jetzt erst auf, dass Wissenschaftler sich häufig widersprechen oder streiten. Das hat man vorher höchstens mal im medizinischen Umfeld gemerkt, wenn ein Arzt etwas anderes empfohlen hat als ein anderer. Dagegen geht es jetzt um eine generelle gesellschaftliche Problematik.

 

Wissenschaftler streiten sich über Dinge, die unmittelbare Auswirkungen auf die Menschen haben. Welche Maßnahmen helfen wie gut gegen Corona und welche nicht?

Sonst muss es in der Wissenschaft nicht so schnell gehen, von der Fragestellung bis zum Ergebnis. Normalerweise haben wir sehr lang dauernde Qualitätssicherungsprozesse in der Wissenschaft. Teilweise werden Ergebnisse veröffentlicht, die noch niemand überprüft hat und die dann in Frage gestellt oder sogar zurückgezogen werden. Dabei findet das sonst auch statt, nur nicht unter Beobachtung der Öffentlichkeit.

 

Trägt das zur Verunsicherung bei?

Ja, wenn man nicht weiß, dass diese Prozesse notwendigerweise Zeit brauchen. Wenn man einen Artikel einreicht, dauert es oft vier bis sechs Monate bis er begutachtet ist. So alt ist diese Krise gerade einmal. Das ist für Außenstehende schwierig, aber für die Wissenschaftler selbst auch. Plötzlich schaut jeder zu und denkt, wenn Kritik geübt wird, wäre das etwas Schlechtes.

 

In Filmen haben Wissenschaftler auch nur 90 Minuten Zeit, um Probleme zu lösen.

Und das sind dann meistens Naturwissenschaftler mit zerzausten Haaren und weißem Kittel im Labor. Aber es gibt auch andere Wissenschaften, die jetzt in der Corona-Krise ganz wichtig sind und die anders arbeiten, zum Beispiel Psychologie, Soziologie oder natürlich auch die Pädagogik, die sich mit den Auswirkungen der Krise beschäftigen. Ihre Methoden sind beispielsweise weit von denen eines Chemikers entfernt. Die Wissenschaft ist in sich sehr vielfältig.

 

In einem 500-Seiten-Buch können Sie all diese verschiedenen Facetten darstellen. Aber wie begegnen Sie dem Bedürfnis nach schneller Information einerseits und Wissenschafts-Skepsis andererseits?

Das ist schwierig. Aber es gibt bereits viele Angebote in diese Richtung. Zum Beispiel gute Wissenschaftskanäle auf Youtube.

 

Aber auch da steht in den Kommentaren: Stimmt ja eh alles nicht!

Als Philosoph wünsche ich mir natürlich kritische Rückfragen. Das ist wichtig! Ich würde mir aber auch wünschen, dass sich mehr Menschen Zeit nehmen, mit der Wissenschaft ins Gespräch zu kommen und sachlich zu diskutieren statt nur auf die Mittler zu schimpfen. Beim Vorliegen von guten Argumenten sollte man offen dafür sein, sein Urteile zu revidieren. Das ist keine Schwäche, sondern aus Sicht der Wissenschaft eine große Stärke.

 

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