Zengers Taktiktafel

"Walterball" beim HSV: So wild treibt's der Club-Gegner

26.9.2021, 05:58 Uhr
Raus mit den Derby-Emotionen: Robert Glatzel hat soeben das 1:0 in Bremen erzielt, die Kollegen Kinsombi und Jatta jubeln mit.  

© Carmen Jaspersen/dpa Raus mit den Derby-Emotionen: Robert Glatzel hat soeben das 1:0 in Bremen erzielt, die Kollegen Kinsombi und Jatta jubeln mit.  

Wer steht an der Seitenlinie?

Einer der innovativsten, aber auch rigorosesten Trainer im deutschen Profifußball. Tim Walter, der seinerseits nie höher als in der - damals fünftklassigen - Verbandsliga gespielt hat, gehört zur fußballerischen Avantgarde in der Republik. Mit seinen Vorstellungen von flexiblen, fließenden Positionen und druckvollem mutigem Spiel gehört er zu den Lieblingen der Fußballnerds. Gleichzeitig eilt Walter aber auch der Ruf voraus, in besonderer Weise von sich überzeugt zu sein.

Das sorgt einerseits immer wieder für Irritationen, Walter wird oftmals als arrogant wahrgenommen. Andererseits überträgt er die Überzeugung hinsichtlich seiner Art des Fußballs auch auf die Spieler, sofern die davon zu überzeugen sind. Sind sie es nicht, dann haben sie keinen Platz bei Walter. So wie Toni Leistner, mit dem der HSV im August den Vertrag auflöste, da er nicht in Walters Vorstellungen passte und Walters Vorstellungen nicht zu Leistner.

Von der Art und Weise, wie andere Fußball spielen, ist Walter dann auch oft nicht sonderlich angetan. Als Trainer von Holstein Kiel - seiner ersten Profistation - kritisierte er den späteren Aufsteiger Union Berlin als Truppe, die nicht am Fußballspielen interessiert sei. Prompt versuchten die Spieler von Union auf der Aufstiegsfeier Walter anzurufen, um sich mit "hier sind die, die nicht Fußball spielen können" zu melden. Leider entwickelte sich kein Gespräch, weil Walter nicht ans Telefon ging.

Stattdessen wechselte er nach einer Saison in Kiel zum VfB. Auch dort führte er sein System und seine Vorstellung vom Fußball ein, stand zu Weihnachten 2019 auf Platz drei. Dennoch wurde Walter, wohl auch wegen atmosphärischer Störungen, entlassen. Zum ersten Mal in seiner Karriere, in der er vor den Profistationen im Jugendfußball beim KSC und bei den Bayern tätig gewesen war. Eineinhalb Jahre später fand Walter beim HSV eine neue Anstellung.

Wie wird gespielt?

So wie immer unter Tim Walter wird "Walterball" gespielt, auch am Sonntag gegen den 1. FC Nürnberg (13.30 Uhr, Live-Ticker auf nordbayern.de). Eine Art des Fußballs, die Taktik-Buchautor Tobias Escher mit "Wer das erste Mal einer Mannschaft von Tim Walter zuschaut, kapiert erst einmal gar nichts" zusammenfasste. Das liegt vor allem daran, dass Walter die Positionstreue der Spieler nicht sonderlich wichtig ist. Da tauchen situativ schon einmal die Innenverteidiger als Achter auf, die Rechtsverteidiger als Linksaußen und, wenn es sein muss, auch die Angreifer als defensive Mittelfeldspieler. Im Prinzip ist der "Walterball" ein Wiederaufleben des niederländischen Voetbal total, bei dem nicht wichtig war, welche Person die Position ausfüllte, solange sie besetzt war.

Ebenfalls fast niederländisch ist die Ausrichtung. Walter selbst beschreibt sie als dominant, offensiv und attraktiv. Gegenüber dem Magazin Socrates schränkte er aber ein: "Was mir dabei jedoch oft zu kurz kommt, ist der Hinweis darauf, dass keine Offensive funktioniert, wenn die Defensive nicht stimmt. Wenn du schlecht im Gegenpressing bist und keine guten Abstände zueinander hast, dann funktioniert das Ballbesitzspiel nicht. Die Ballrückeroberung und die Restfeldverteidigung sind daher Kernelemente meiner Arbeit."

Rein statistisch funktioniert die Offensive und die Dominanz des HSV unter Walter bereits hervorragend. Der Pressingwert von 6,48 gegnerischen Pässen pro eigener Defensivaktion ist der intensivste der Liga. Nach sieben Spielen kommt der HSV auf knapp 66 Prozent Ballbesitz im Schnitt, spielt fast 140 Pässe pro Partie mehr als der durchschnittliche Zweitligist. Nur St. Pauli spielt mehr Pässe, die in Tornähe ankommen, nur Düsseldorf hat mehr Ballkontakte im gegnerischen Strafraum. Nach expected Goals und expected Goals pro abgegebenem Schuss ist Hamburg Tabellenführer. Allerdings lässt die Chancenverwertung noch zu wünschen übrig. Vier Tore weniger als statistisch zu erwarten hat der HSV in sieben Spielen erzielt.

Wer sind die Schlüsselspieler?

Auffällig hohe Offensivwerte haben beim HSV gleich eine ganze Reihe an Spielern. Darunter Tim Leibold, Bakery Jatta und Jonas Meffert. Noch etwas mehr als alle anderen sticht Sonny Kittel hervor. Der 28-Jährige führt die Zweite Liga in Sachen Pässe zu Abschlüssen, Flanken und Angriffsbeteiligung an, schlägt zusätzlich viele der Standards. Doch im "Walterball" fallen nicht nur den Offensivkräften, sondern auch den Innenverteidigern oft mehr Gestaltungsaufgaben zu als in anderen Systemen.

So gesehen ist die Sperre von Stamminnenverteidiger Sebastian Schonlau zunächst einmal eine Schwächung. Der Neuzugang aus Paderborn war bislang einer der Taktgeber bei den Hamburgern. Ihn ersetzen wird wahrscheinlich Mario Vušković. Der 19-jährige, den der HSV am Deadline Day noch von Hajduk Split ausgeliehen hat, gilt aufgrund seiner Kombination von Pass- und Zweikampfstärke als eines der größten Innenverteidigertalente Südosteuropas.


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