Aufräumen für den Neuanfang beim 1. FC Nürnberg

13.7.2020, 10:37 Uhr
Bier, Zigarre und polternd auf der Tribüne: Die Außendarstellung Thomas Grethleins empfinden viele Menschen noch als das kleinste Problem.

© Screenshot ZDF, NN Bier, Zigarre und polternd auf der Tribüne: Die Außendarstellung Thomas Grethleins empfinden viele Menschen noch als das kleinste Problem.

Es flossen am Samstag so viele Tränen wie wahrscheinlich noch nie in den leidgeprüften Jahren seit dem möglicherweise letzten Meistertitel 1968. Gestandene Profis heulten und fielen sich gegenseitig in die Arme, Trainer Michael Wiesinger zeigte sich ebenfalls mächtig ergriffen. Klar war wieder einmal: Mit diesem 1. FC Nürnberg wird mitgezittert, der Club wird gelebt und geliebt – nur kippt der einstige Rekordmeister auf dem schmalen Grat zwischen Lust und Leid vornehmlich auf die falsche Seite. Muss das so sein? Gehört das zu einem Verein, der im Volksmund sowieso ein Depp ist?

Bier, Zigarre und polternd auf der Tribüne: Die Außendarstellung Thomas Grethleins empfinden viele Menschen noch als das kleinste Problem.

Bier, Zigarre und polternd auf der Tribüne: Die Außendarstellung Thomas Grethleins empfinden viele Menschen noch als das kleinste Problem. © Foto: Daniel Karmann, dpa

Nicht wenige kritische Geister rund um das Epizentrum des Wahnsinns am Valznerweiher stellen nun mehr denn je die sportliche Kompetenz der Vereinsführung in Frage. Allen voran die ehemaligen Meisterspieler sorgen sich um ihren Club und gehen mit den Verantwortlichen entsprechend hart ins Gericht. Sportvorstand Robert Palikuca und Aufsichtsratschef Thomas Grethlein stehen im Zentrum vieler offener Fragen. Kann es mit diesem Duo eine erfolgreiche Zukunft für den 1. FC Nürnberg überhaupt geben? Die Replik nimmt sich vernichtend aus.

Aufräumen für den Neuanfang beim 1. FC Nürnberg

© Foto: Daniel Karmann, dpa

"Wenn ein Verein aus der Bundesliga absteigt und dann so eine Saison in der zweiten Liga spielt, muss man nachfragen, wer dafür verantwortlich ist", findet Fritz Popp und fordert genau die Konsequenz ein, die er in über 400 Spielen für den Club als eisenharter Verteidiger bewiesen hat. "Es sind an allen Fronten falsche Entscheidungen getroffen worden", spielt Popp auf Palikuca und Grethlein an: "Wer auf Dauer mehr Leiden verursacht, als er dem Verein gut tut, muss entlassen werden."

Steff Reisch wird noch deutlicher. Der feine Techniker, 1961 mit dem Club Meister und im Jahr darauf Pokalsieger, spricht die Sprache vieler Menschen, die es mit dem Club halten: "Palikuca muss weg." So ist das Geschäft, nicht selten überbezahlt, zumeist gnadenlos. Dem Sportvorstand, seit April 2019 in Amt und Würden, wird eine falsche Zusammenstellung des Kaders angelastet. Viel Geld ausgegeben, vor allem Individualisten verpflichtet und dabei den Blick für die unbedingt nötige Struktur einer Mannschaft verloren oder nie gehabt. "Nach dieser Geschichte hat er keine zweite Chance verdient", findet Popp.

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Womöglich gehen die Meinungen da gar nicht so weit auseinander. Nur mochte sich Thomas Grethlein noch nicht dazu äußern. Der Aufsichtsratsvorsitzende warnte im Bayerischen Rundfunk vor "übereilten Kurzschlusshandlungen. Wir wollen das in Ruhe analysieren. Das wird ein bisschen Zeit brauchen." Mit Plan B oder C tun sie sich in dem vom 58-Jährigen angeführten Gremium ohnehin schwer. Sechs Wochen wurde ein Manager gesucht, ehe der bis dahin nur Insidern bekannte Robert Palikuca aus dem Hut gezaubert worden war.

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"Da warten sie so lange ab, und dann kommt das raus", blättert Horst Leupold zurück und erinnert sich an kritische Stimmen wie die von Friedhelm Funkel über Palikuca. "Da hätte man eben recherchieren müssen, und dann hätte man es gewusst." Der 78-Jährige, zu dessen Ehren nach über 400 Spielen für den Ruhmreichen ein Block im Stadion benannt ist, hat seine Zurückhaltung aufgegeben und will neben der Trennung von Palikuca noch einen Schritt weitergehen. "Die ganzen Strukturen im Verein müssen verändert werden. Wir brauchen einen Macher als Präsidenten und sportliche Kompetenz im Führungsgremium."

Diese Kompetenz spricht das Trio Grethlein und seinem für Palikuca maßgeblich verantwortlichen Stellvertreter Stefan Müller kategorisch ab. "Diese Menschen wollen gar keine sportliche Kompetenz im Verein", glaubt Popp. Ändern könnten das nur die Mitglieder. Im Oktober steht die Hauptversammlung an, Grethlein, Müller und Radio-Legende Günther Koch stehen turnusgemäß zur Wahl. Schwierig, dieser Umbruch in Zeiten von Corona, doch dafür hat Fritz Sörgel das passende Rezept. Der Anti-Doping-Experte und langjährige Club-Fan hat sich bereits an den Aufsichtsrat gewandt. Mitglieder könnten nach modifiziertem Vereinsrecht per Briefwahl abstimmen, mehr Demokratie geht nicht, sagt Sörgel: "Wir sollten das Corona-Gesetz für eine Aufräumaktion nutzen."

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© Foto: Daniel Karmann, dpa

Demnach müssten alle Mitglieder jetzt über diese Möglichkeit schriftlich informiert werden und könnten dann per Brief oder E-Mail über den Aufsichtsrat oder selbst Satzungsänderungen abstimmen. "Genau das ist dringend nötig", findet auch Herbert Oppelt. Der einstige Macher verkörperte mit seiner Rad-Equipe Nürnberger Weltklasse. Beim Club sei man in vielerlei Hinsicht lediglich Kreisklasse, poltert Oppelt und legt Grethlein wie Palikuca einen Rücktritt nahe: "Es darf kein Postengeklebe geben."

Die Liga gehalten, den Absturz in die Bedeutungslosigkeit verhindert, dennoch vor einem Scherbenhaufen. Leupold, Popp, Reisch, Sörgel und Oppelt sprechen das aus, was viele denken: Eine kritische Reflexion der vergangenen Monate alleine wäre nur Augenwischerei und kein Start in eine bessere Zukunft.

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