Die Nationalmannschaft in Herzogenaurach

Champions-League-Sieger Antonio Rüdiger: Plötzlich weltklasse

13.6.2021, 15:30 Uhr
Löws Liebling: Der Bundestrainer und Antonio Rüdiger haben eine ganz besondere Beziehung. 

© Christian Charisius, dpa Löws Liebling: Der Bundestrainer und Antonio Rüdiger haben eine ganz besondere Beziehung. 

Der Unfall sorgte im Quartier der deutschen Nationalmannschaft für helle Aufregung. Nach einem Zweikampf mit Thomas Müller blieb Antonio Rüdiger liegen, seine unguten Gefühle sah man ihm an. Betreuer eilten herbei und führten ihn kurz darauf in die Kabine. Sein rechtes Knie hatte etwas abgekommen, es sah wirklich nicht gut aus für den Innenverteidiger, der auf einem so viel versprechenden Weg war. Die Diagnose am nächsten Tag sorgte für allgemeine Ernüchterung: Riss des vorderen Kreuzbandes.

"Es tut mir sehr leid für den Toni, er war in einem sehr guten Formzustand", meinte der Bundestrainer später mit ernster Miene. Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren ist das passiert, als sich die DFB-Auswahl in Evian auf die Europameisterschaft in Frankreich vorbereitete.

Fünf Jahre später, bei der EM 2021, ist Rüdiger in einem noch viel besseren Formzustand und zum Glück für seine Nationalelf in jeder Hinsicht topfit. Als er am 2. Juni mit etwas Verspätung im Trainingslager in Seefeld/Tirol eintraf, lief er mit Köfferchen und Rucksack nicht etwa ins Team-Hotel, sondern schwebte förmlich. "Willkommen, Champion!", twitterte der Deutsche Fußball-Bund. Willkommen, Champions-League-Sieger!

"Kann uns Auftrieb geben"

Seit dem 29. Mai und dem 1:0 seines Chelsea FC gegen Manchester City im Endspiel von Porto ist Rüdigers ohnehin schon breites Kreuz noch ein bisschen breiter geworden; der größte Erfolg seiner Karriere, erkämpft mit den Auswahl-Kollegen Timo Werner und Kai Havertz, dürfte ihn auch in der Nationalmannschaftshierarchie noch ein Stück nach oben gespült haben.

"Wir haben ein gutes Saisonende gehabt, natürlich kann uns das Auftrieb geben", sagt Rüdiger am Sonntagmittag in Herzogenaurach über den Chelsea-Block, überbewerten möchte er den finalen Triumph aber keineswegs. Trotzdem wird man den Eindruck nicht los, dass der 28-Jährige mittlerweile unantastbar, ja der wichtigste der zentralen Verteidiger ist. Beim Auftakt gegen Weltmeister Frankreich (21 Uhr) wird der Bundestrainer ganz hinten sehr wahrscheinlich eine Dreierkette aufbieten, mit Rüdiger in der Mitte.

Debütiert im A-Team hat er am 13. Mai 2014 beim sagenumwobenen 0:0 gegen Polen, als selbst der ehemalige Nürnberger Oliver Sorg den Adler auf der Brust tragen durfte. Den WM-Titel holten die anderen dann ohne Rüdiger, der beim ersten Auftritt danach aber richtig in Erscheinung trat. Im Freundschaftsspiel gegen Argentinien (2:4) in Düsseldorf zweikämpfte und grätschte sich der spät Eingewechselte noch in die Herzen der ansonsten ziemlich bedienten Zuschauer. "Rüdiger, Rüdiger" riefen sie auf der Haupttribüne, weil ihnen der junge Mann da unten hörbar imponierte mit seinem unbändigen Einsatzwillen.

In der Jugend des BVB und VfB

Wie aufgezogen jagte Rüdiger, der in den Nachwuchsleistungszentren von Borussia Dortmund und des VfB Stuttgart ausgebildet worden ist, über das Feld; "Krieger" nennen ihn die Menschen in London neuerdings, was ihm eigentlich gar nicht recht ist. "Um ehrlich zu sein habe ich schon immer so gespielt", sagt Rüdiger in der vorerst letzten Pressekonferenz im Base Camp; am Montag um 10.30 Uhr geht’s in Bussen nach München ins Team Transfer Hotel. Mitnehmen wird er unter anderem seine Gesichtsmaske und sie auch weiterhin tragen, nachdem er Ende April im Halbfinal-Hinspiel gegen Real einen Jochbeinbruch erlitten hatte.

Mit dem Carbon-Schutz sieht Koloss Rüdiger tatsächlich noch etwas kolossaler aus, anlegen mochte man sich mit dem kräftigen Kerl, der aus komplizierten Verhältnissen stammt, schon früher nicht. Seine Familie musste einst vor dem Bürgerkrieg in Sierra Leone nach Berlin-Neukölln fliehen, Armut und Rassismus prägten seine Kindheit und Jugend. "Mit Anfeindungen habe ich mein ganzes Leben zu kämpfen gehabt", sagt Rüdiger in der DFB-Pressekonferenz, "alles, was ich tue, tue ich für meine Familie." Sie treibt ihn an, sie motiviert ihn.

Der Fußball, erzählt Rüdiger, sei einfach sein Weg gewesen, "um aus der Armut herauszukommen". Weil er zudem mit seinem sozialen Engagement auch neben dem Platz Spuren hinterlässt, würden sie ihm jetzt gerne die Neuköllner Ehrennadel verleihen. Einer der härtesten Verteidiger der Menschenrechte ist ab morgen aber erst mal wieder einer der härtesten Verteidiger seines Tores.

"Auf dem Papier sieht Frankreich stärker aus, aber es ist nur Papier", sagt Rüdiger, "wir müssen einfach eklig sein, nicht immer lieb, lieb, lieb." So eine Spielweise ist ihm sowieso fremd, gegen Frankreich mit seinen Super-Stürmern Kylian Mbappe und Antoine Griezmann ganz ganz besonders. "Gegen diese Spieler", sagt Rüdiger, mittlerweile selbst weltklasse, "musst du auch mal Zeichen setzen. Früh!"

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