Serie zur Fußball-EM

Deutschland - Ungarn: "Wie edler Lachs gegen vergammelte Forelle"

22.6.2021, 06:00 Uhr
Bis vor kurzem leitete Levent Bozsik die Geschicke beim FC Dormitz; als EM-Experte prangert er die Zustände im ungarischen Fußball unter Viktor Orbán an.  

© Roland-Gilbert Huber-Altjohann, NN Bis vor kurzem leitete Levent Bozsik die Geschicke beim FC Dormitz; als EM-Experte prangert er die Zustände im ungarischen Fußball unter Viktor Orbán an.  

Levente Bozsik (41) wechselte 1999 als junger Stürmer vom Heimatverein und damaligen Erstligisten Budapesti VSC zu Union Berlin. Nach einem erfolgreichen ersten Jahr in der noch drittklassigen Regionalliga folgten weitere Stationen in Deutschland, Finnland und Zypern, bis er bereits im Alter von 24 Jahren und geplagt von Verletzungen die aktive Laufbahn beendete. Er fasste in Nürnberg beruflich Fuß, gründete Familie und stieg 2013 bei den SF Großgründlach als Trainer ein. Im Landkreis Forchheim war er zuletzt beim FC Dormitz in der Kreisklasse aktiv. Aktuell coacht er die U18 der SG Quelle Fürth.

Wie unterscheidet sich der Fußball in Deutschland und Ungarn?
Levente Bozsik: Es tut mir leid, dass ich bei diesem Thema emotional werde, aber das ist wie ein edler Lachs gegen eine vergammelte Forelle. Der ungarische Fußball ist korrupt bis zum Gehtnichtmehr. Man hat oft das Gefühl, dass es für den Ministerpräsidenten Viktor Orbán nichts Wichtigeres gibt. Er ist fußballverrückt im negativen Sinne. Er findet Wege, um auch Gelder aus der EU in das Fußballgeschäft zu pumpen, damit gute Spieler nicht nach Westeuropa wechseln und die Liga interessanter wird. In fast allen Profivereinen finden sich Politiker, Abgeordnete oder andere mächtige Persönlichkeiten in der Führungsriege. Orbán sorgt dafür, dass wichtige Fußballspiele in der Puskás Arena in Budapest ausgetragen werden und veranlasst, dass sie trotz Pandemie bis zum Rand mit Fans gefüllt wird. In den Krankenhäusern herrschen dagegen entwicklungstechnisch Zustände wie im zweiten Weltkrieg. Mir ist der ungarische Fußball ein Dorn im Auge. Was Orbán sich davon verspricht? Popularität bei seinen Anhängern und fußballbegeisterten Teilen der Nation. Ich kenne Familien, in denen nicht mehr miteinander gesprochen wird. Die einen sind für ihn, die anderen gegen ihn. Mir blutet das Herz.

Wie ist die Lage des Amateurfußballs?
Levente Bozsik: Auch hier tut der Ministerpräsident alles für eine voranschreitende Entwicklung und versucht, mit Geldern, die woanders besser aufgehoben wären, die Bedingungen zu schaffen. Hier in Deutschland ist es für einen Amateurklub ein großer Aufwand, sich einen Kunstrasenplatz zu finanzieren. Die gibt es hier noch fast nirgendwo. In Ungarn hat aber jeder noch so kleine Dorfverein einen Kunstrasenplatz, die brauchen nur mit dem Finger zu schnippen und schon bekommen sie einen. Die Anlage des für eine bessere Jugendarbeit geschaffenen Puskás Akadémia FC steht zufällig im kleinen Heimatdorf von Viktor Orbán. Selbst in der dritten ungarischen Liga, welche aktuell vielleicht nicht einmal deutsches Landesliganiveau hat, fließt mittlerweile für Amateur-Verhältnisse reichlich Geld.

Welches Trikot hing früher bei Ihnen an der Wand, welcher Nationalspieler ist heute Vorbild bei den Kindern?
Levente Bozsik: Lajos Détári war damals der Held vieler fußballbegeisterter Kinder. Er hat als Mittelfeldspieler mal ein Jahr bei Eintracht Frankfurt gespielt und Stationen in Italien gehabt. In den 1980ern und Anfang der 90er war das für einen ungarischen Profi durchaus bemerkenswert. In den letzten Jahren war vor allen Zoltán Gera ein Vorbild. Er ist von Budapest in die Premier League gewechselt und hat dort mehrere Jahre für West Bromwich und Fulham gespielt. Beide waren in der Nationalmannschaft prägend. Heute gibt es mit Dominik Szoboszlai einen 20-Jährigen, der uns in den Play-Offs zur EM geschossen hat, künftig in Leipzig spielt und eine große Karriere vor sich haben könnte. Er fehlt aber verletzungsbedingt beim Turnier.

Wie sind die Chancen gegen Deutschland?
Levente Bozsik: Ich glaube kaum, dass es überhaupt eine Chance geben wird. Bei der 0:3-Niederlage gegen Portugal hat der Gegner für seine Verhältnisse wirklich sehr schwach gespielt und wir hatten dennoch nicht den Hauch einer Chance. Gegen Frankreich hatte ich ähnlich Schlimmes befürchtet. Das Unentschieden hat mich schon überrascht. Aber man muss das 1:1 auch realistisch sehen. Denn eigentlich hätte Frankreich in Führung gehen müssen und dann wäre es wohl vorbei gewesen. Deutschland wird ein anderes Spiel, weil die Deutschen eine bessere Einstellung an den Tag legen werden als die Franzosen. Und außerdem müssen die Ungarn in München auswärts ran, was auch ein Nachteil sein wird.

Wie weit kommt Ungarn?
Levente Bozsik: Trotz allem drücke ich meinen Landsleuten bei der EM alle Daumen und habe auch gehofft, dass wir eine Überraschung landen können. Der Punkt gegen Frankreich war so eine. Realistisch betrachtet hätten in dieser starken Gruppe aber auch ganz andere Mannschaften Schwierigkeiten gehabt. Es wird also nach der Vorrunde Schluss sein.

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