Fürths einzigartige Kung-Fu-WG

30.7.2020, 12:44 Uhr
Fürths einzigartige Kung-Fu-WG

© Foto: Hans-Joachim Winckler

Das Wort "Aussteiger" mag Can Tobias Plötz überhaupt nicht. Doch es kommt einem leicht über die Lippen, wenn man dem 40-Jährigen ein paar Minuten zuhört. Hier, auf dem Sessel seiner Wohnung mitten in der Fürther Innenstadt. Wobei man statt "Aussteiger" auch "Soldaten" sagen könnte, denn beim Blick auf die vier Stockbetten im Schlafsaal fällt auf: Hier hängt nichts an den Wänden, der Boden ist blitzblank. Entweder verbringen die Bewohner hier nicht viel Zeit oder sie sind sehr diszipliniert. Oder beides.

Auch im Rest der Wohnung gibt es nicht viel zu sehen. Eine aufgeräumte Küche, Bad, ein Flur mit einer Zimmerpflanze, im Schlafzimmer stehen Sofa und Fernseher. Eine Wendeltreppe führt in den ersten Stock. Der große Raum mit Balkon ist noch leer. "Dieser Bereich wäre für Frauen, die sich uns anschließen", erklärt Plötz, der Gründer und Leiter der Schule der fünf Drachen, einer Schule für die Kampfkunst Kung-Fu.

Schlafen, essen, trainieren

Sie befindet sich in der Fürther Straße 212 in Nürnberg. In seiner Wohnung hat er in einer für Fürth einzigartigen Wohngemeinschaft vier Schüler um sich geschart, die es ernst meinen mit dem Kung-Fu. Denn es ist ein entbehrungsreiches Leben, das diese Clique führt.

"Schlafen, essen, trainieren – wiederholen", so fasst Plötz den Tagesablauf zusammen. So kahl die Wohnung, so einfach das Leben ihrer Bewohner. Nichts soll ablenken von der Suche, auf der jeder Schüler ist. Sie alle eine, dass sie aus ihrem Hamsterrad herauskommen wollten, sagt Plötz. Sie sind zwischen 20 und 40 Jahre alt und aus unterschiedlichen Gründen in Fürth gelandet: ein Filmregisseur aus London, ein irakischer Boxer, der Dritte kam aus Berlin, der Vierte aus Schwabach.

Einer von ihnen ist im öffentlichen Dienst beschäftigt, ein anderer verdient am Wochenende das Geld für die Miete, denn Sonntag ist auch in der Kung-Fu-WG der freie Tag. Plötz selbst hat Zahntechniker gelernt und sich als Verkäufer durchgebissen.

Als er merkte, dass ihn das vielleicht wohlhabend, aber nicht glücklich machen würde, ging er für mehrere Jahre in einen chinesischen Tempel. Nachdem er anderen Meistern zugehört hat, bringt er Interessierten nun selbst bei, "zu entdecken, was denn die eigene Sicht der Dinge ist. Dafür braucht man eine Zeit lang." Es sei "eine große Entscheidung", in die WG einzuziehen. "Es sind Menschen, die schon immer anders waren." Und trotzdem mag er das Wort "Aussteiger" nicht.

"Das Ziel, sich uns anzuschließen, ist bei jedem anders." Kung-Fu bedeute "Bewusstseinsschulung". Die Tage beginnen schon vor Sonnenaufgang. Ab sechs Uhr trainieren die Schüler mit ihrem Lehrer im Fürther Stadtpark. Schweigend. Dabei laufen sie zum Beispiel auf den Fäusten eine Treppe hinunter. Um acht Uhr schließen sich weitere Menschen an, die am meditativen Qigong teilnehmen. Anfänger sind willkommen, aber am Abend in der Schule in Nürnberg besser aufgehoben, da der Meister dort mehr Zeit für Erklärungen hat.

Der Vormittag endet mit speziellen Kung-Fu-Übungen für Fortgeschrittene. "Man lernt erst, sich in Ruhe zu bewegen und zu stehen, das Kämpfen kommt erst später." Nach einem Dauerlauf in die Schule kochen sie gemeinsam – es ist die erste Mahlzeit des Tages für die WG-Bewohner. Auf dem Speiseplan steht wenig Fleisch, Tabus aber gibt es nicht. "Manchmal gibt es Weißwürste oder wir gehen zu McDonald’s", sagt Plötz und lacht, "man kann sich nicht in den Himmel essen, es gibt kein Dogma!" Auch außerhalb der Küche nicht. Rauchen ist zum Beispiel nicht verboten, "aber es macht keinen Sinn, wenn du dich beim Qigong nicht mehr schmeckst".

Die Ausbildung selbst nennt Plötz "bitter essen". Dahinter steckt das Ziel, Bitteres im Leben nicht als unangenehm wahrzunehmen. "Erst wer das Bittere genießt, genießt das Leben, das wahrlich Süße".

Gestählter Körper

Und so ist jede Unterrichtsstunde in der Schule der fünf Drachen auch eine Philosophiestunde. Dass Kung-Fu etwas mit Kampfsport zu tun hat, sieht man am Körper des Meisters: Am Bizeps treten die Adern hervor, der Bauch flach wie ein Waschbrett. Mit seinem langen Kinnbart und der weiten Hose ginge er auch als Kung-Fu-Meister-Darsteller in einem Eastern durch. Plötz winkt ab: "Ich bin einfach nur der Tobi und der Leiter dieser Schule." Damit bestreite er seinen Lebensunterhalt, das Konzept gehe gerade so auf, Reichtum sei eher nicht zu erwarten. Im monetären Sinne, versteht sich.

Der Tag endet nach einem Mittagsschlaf mit dem Training in der Nürnberger Schule. Bis 22 Uhr unterrichtet er "Freizeitschüler", wie er sie nennt, also ganz normale Feierabendsportler. Bis 23 Uhr sitzen die müden Krieger noch zusammen und essen zu Abend. Zurück in Fürth, zieht sich jeder in sein Stockbett zurück. Bleibt da überhaupt noch Zeit für Kochen, Staubsaugen, Einkaufen? Plötz muss lachen und antwortet mit seiner ruhigen Stimme: "Ich frage mich selbst immer, wie das funktioniert."

Neugierige sind jederzeit willkommen: www.5drachenschule.de

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