Euro 2021

Fußball-EM: Platinis Idee und was davon übrig blieb

11.6.2021, 06:00 Uhr
Fußball-EM: Platinis Idee und was davon übrig blieb

© Foto: Imago Images

Es war nicht das erste Mal, dass Michel Francois Platini die Geschichte der Fußball-Europameisterschaft verändert hat. 1984 hatte der Mann aus Lothringen sowohl mit dem rechten Fuß als auch mit dem linken Fuß aus 16 Metern getroffen, zweimal mit dem Kopf, zweimal per Freistoß, einmal vom Elfmeterpunkt, zweimal in Kontakt mit Torhütern, zwei Treffer würde man Abstauber nennen, klänge das nicht so profan. Nie zuvor, nie danach hat ein Spieler ein Turnier so dominiert wie Platini die EM in Frankreich. Seit dem 27. Juni 1984, seit dem 2:0 gegen Spanien im Prinzenpark von Paris, gilt Frankreich im Fußball als Grande Nation.

Und trotzdem schien Europa noch nicht bereit zu sein für seine Idee, die er nach der Euro in Polen und der Ukraine eher nebenbei formulierte. Als Präsident der Union des Associations Européennes de Football (Uefa) lobte er die beiden Gastgeber überschwänglich. Noch nie, sagte Platini, habe eine Fußball-Europameisterschaft "ein solch wichtiges Erbe hinterlassen", und stellte sich laut die Frage, wenn ein Turnier in zwei Ländern so nachhaltig sei, wie erfolgreich müsse ein Turnier sein, das in zwölf, dreizehn Ländern ausgetragen werde. "Es ist nur eine Idee, wir werden eine offene Diskussion führen", sagte der Franzose damals. Und: "Mir gefällt dieser Gedanke." Ein halbes Jahr später beschloss das Exekutivkomitee der Uefa, die Euro 2020 zum 60. Geburtstag des Verbands über ganz Europa zu verteilen.

Es droht der digitale Lynchmob

Und nun, nach neun Jahren, mit einer Pandemie Verspätung, geht es tatsächlich los: Am Samstag Petersburg, am Freitag Rom, in Kopenhagen schellt das Telefon, vielleicht nach London, vielleicht nach Bukarest, vielleicht auch Sevilla – eine Woche Weintest. Die Zusammenfassung des ersten Spieltags klingt wie eine Variation des Gesangs, mit dem die Fans des 1. FC Nürnberg im Sommer nach dem Pokalsieg 2007 ihre unverhoffte Europareise gefeiert hatten. Wäre es nicht schön, sich ein solches Turnier in einer Welt ohne Sars-CoV-2 samt seiner Mutationen vorzustellen, ohne die unwiderrufliche Erwärmung des Klimas, in einem Europa, das die Verzweifelten nicht im Mittelmeer ersaufen lässt?

Im Dezember 2012, nach der Entscheidung der Uefa, hatte man sich solch naiven Gedanken noch hingeben können, ohne sich mit einem digitalen Lynchmob auseinandersetzen zu müssen. In einem Kommentar prophezeite Die Zeit damals die "geringere finanzielle Last für jedes einzelne Veranstaltungsland", eine "effizientere Organisation, die sich nicht nach Staatsgrenzen, sondern nach Sinnhaftigkeit richten kann", und "eine Chance für kleinere Nationen, Teil des Ganzen zu werden", und schwärmte von "kulturellen Verknüpfungen".

Die CO2-Last eines Wettbewerbs, den die 24 Mannschaften vorwiegend aus der Luft verfolgen werden, vom Unsinn, Gruppenspiele sowohl im alten Rom als auch im asiatischen Baku, in Sevilla und St. Petersburg auszutragen, war noch keine Rede. Neun Jahre später muss sich der Deutsche Fußballbund aber für jeden Inlandsflug seiner Ersten Mannschaft rechtfertigen, für die 184 Kilometer zwischen ihrem Feriendorf auf dem Adidas-Gelände in Herzogenaurach und der Arena in Fröttmaning, wo am Dienstag (15. Juni) Weltmeister Frankreich zum Auftakt bittet, wählt man in ungewohnt weiser Voraussicht den Bus.

Sollte sich Gruppe F für den dreimaligen Europameister nicht als Todesgruppe erweisen, wird der Bus die Reisegruppe Löw allerdings nur noch zum Flughafen im Knoblauchsland bringen dürfen, mögliche Viertelfinaldestinationen wären Bukarest, Budapest oder London. Je nachdem zöge die deutsche Elf in ein weitgehend leeres oder ein volles Stadion ein.

Zu jedem der 51 Spielen werden Zuschauer zugelassen, nichts weniger hatte die Uefa all ihren zwölf Ausrichterstädten abverlangt – zu einem Zeitpunkt, als kaum absehbar war, dass die Inzidenzwerte überall fallen würden. In Deutschland wurde das als Erpressungsversuch interpretiert, trotzdem einigten sich die Stadt München und der Kontinentalverband darauf, Fans in die Allianz Arena zu lassen. Die Erklärungen der Parteien fielen unterschiedlich aus. In Dublin weigerte man sich, so viel ist bekannt, weshalb sich die EM doch nur auf elf Städte verteilt. Dabei unterscheiden sich die Vorgaben von Land zu Land erheblich. In Glasgow werden 12 750 der 51 866 Plätze des Hamden Parks besetzt sein, in München sind 14 500 Fans zugelassen. Die Puskas-Arena (68 000 Zuschauer) in Budapest soll bei allen vier Spielen ausverkauft sein.

Großereignisse ließen sich zuletzt risikoarm organisieren, bei der Eishockey-WM gab es keinen einzigen positiven Test, allerdings wurde das zweiwöchige Turnier allein in Riga ausgetragen und nicht in elf denkbar unterschiedlichen Ländern. Die Fußball-Europameisterschaft wird hingegen schon vor dem Anstoß zwischen Italien und der Türkei am Freitag (21 Uhr/ARD) täglich durch neue Corona-Fälle erschüttert. Und auch ohne die Pandemie darf man fragen, ob es zeitgemäß ist, dass beispielsweise Polen in neun Tagen zwischen St. Petersburg, Sevilla und St. Petersburg 7157 Kilometer zurücklegt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee.

Der Franzose schimpft nur

Um den Vater dieser Idee, einen der größten Fußballer überhaupt, ist es still geworden. Platini ist nicht mehr Uefa-Präsident, im Dezember 2015 wurde er von Ethikkommission der Fifa wegen Korruption ebenso wie Sepp Blatter für alle Ämter im Fußball gesperrt. Wenn es zwischendurch Journalisten gelingt, mit Platini Kontakt aufzunehmen, schimpft der Franzose – vor allem auf Gianni Infantino, der ohne Platini als Konkurrenten zum Nachfolger von Blatter als Fifa-Präsident gewählt wurde.

"Ohne mich wäre er nie Uefa-Generalsekretär und nie Fifa-Präsident geworden", sagte Platini einem Reporter der New York Times im Juni 2019. Vier Tage nach Erscheinen des Artikels kam er in Paris in Polizeigewahrsam und wurde wegen des Verdachts der "aktiven und passiven Korruption" in Zusammenhang der Vergabe der WM 2022 nach Katar verhört. In der darauffolgenden Nacht wurde der Mann, den sie einst den "Maestro" nannten, wieder freigelassen.

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