Das letzte Turnier

Löws letzter Tanz: Der Bundestrainer will es nochmal wissen

15.6.2021, 11:33 Uhr
Abschlusstraining der National-Elf im EM-Stadion München: Trainer Joachim Löw will es nochmal allen zeigen.

© Federico Gambarini, dpa Abschlusstraining der National-Elf im EM-Stadion München: Trainer Joachim Löw will es nochmal allen zeigen.

Löws letzter Tanz: Der Bundestrainer will es nochmal wissen

In den Minuten vor dem offiziellen Trainingsbeginn schlendert Joachim Löw dieser Tage gerne mal ganz allein über den Adi-Dassler-Sportplatz. An den Füßen trägt er dann immer noch seine schwarzen Schuhe mit den drei weißen Streifen. In Zeiten von pinken oder giftgrünen Modellen wirkt er damit fast ein wenig altmodisch, Trends sollen aber ruhig andere setzen, Jüngere. Mit seinen 61 Jahren ist er dafür wahrscheinlich auch schon ein bisschen zu alt.

Wenn es sein muss, rückt Löw auf seinem kurzen Spaziergang auch Hütchen ein paar Zentimeter hin und her oder checkt die aufgemalten Linien für spezielle Übungen. Das ist eigentlich der Job der Co-Trainer, seine Akribie lässt ihm jedoch offenbar keine andere Wahl. Hier ein prüfender Blick, da eine Anweisung. Löw wirkt dabei mitunter nachdenklich, in sich gekehrt, vor allem aber konzentriert auf die gleich folgende Einheit.

Ein paar darf der Bundestrainer noch leiten, dann ist nach über 15 Jahren Schluss. Eigentlich sind es ja sogar fast 17, weil ihn der damalige Chef Jürgen Klinsmann ja bereits 2004 zu seinem Assistenten machte; nicht wenige Beobachter der deutschen Fußball-Nationalmannschaft glauben, dass Löw bereits in der zweiten Reihe sehr viel Einfluss hatte auf Systeme und Aufstellung.

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel bezeichnete ihn damals nicht zuletzt wegen seiner positiven Ausstrahlung und natürlichen Autorität als den "Hoffnungstrainer". Obwohl Löw schon auch ein paar sportliche Erfolge mit dem FC Tirol Innsbruck oder Fenerbahce Istanbul in der Vita stehen hatte, galt seine Berufung doch als mindestens überraschend. Klinsmann kannte ihn freilich näher und war, wie man hörte, von Löws Fachwissen und Charakterstärke schwer angetan.


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Auch deswegen übertrug er ihm gleich viel Verantwortung. Videoanalysen, Taktik, Trainingsinhalte. "Er hat das richtige Auge und trifft den richtigen Ton", so lobte ihn Klinsmann in einer DFB-Pressemitteilung. Und stellte unmissverständlich klar, dass der gebürtige Badener alles sei, nur ganz bestimmt: kein Hütchenaufsteller.

Zu schade ist er sich dafür nicht, auch nicht vor seinem letzten Tanz. Nach der Europameisterschaft wird Hans-Dieter Flick übernehmen, bereits zum fünften Mal in der Geschichte des DFB ein früherer Co-Trainer der Landesauswahl. Während der Pandemie hatte auch Löw Zeit zum Nachdenken und kam für sich zu dem Schluss, beruflich demnächst etwas anderes machen zu wollen. Was genau, weiß er noch nicht, und auch nicht ab wann. Letztlich früher als erwartet, weil sein Arbeitsvertrag mit dem DFB noch bis 2022 gültig gewesen wäre. Aber vielleicht eben doch ein paar Jahre zu spät.

Nach der komplett verkorksten WM 2018 in Russland, als der Titelverteidiger bereits nach der Gruppenphase nach Hause fliegen musste, wäre bestimmt ein guter Zeitpunkt gewesen, ein noch besserer womöglich nach dem gewonnenen Finale von Rio de Janeiro im Juli 2014. Was hätte noch kommen können für Löw, der so am Höhepunkt seiner Trainer-Laufbahn abgetreten wäre. Als lebende Legende. Unantastbar, für immer.

Löw allerdings wollte mehr, obwohl das eigentlich gar nicht möglich war. Die EM 2016 endete für die deutsche Auswahl zwar krachend, aber immerhin erst im Halbfinale gegen Gastgeber Frankreich, das interkontinentale Turnier zwei Jahre später bereits mit nur einem Sieg und zwei Niederlagen nach der Vorrunde. Löws Denkmal fing langsam an zu bröckeln, nach dem 0:6 gegen Spanien vor knapp sieben Monaten glich es nur noch einem Haufen Schutt.

Die zum Teil auch überzogene Kritik von allen Seiten hinterließ Spuren; Löw wirkte enttäuscht bis verbittert, der allgemeine, mitunter ziemlich respektlos formulierte Vertrauensentzug tat ihm weh. Selbst langjährige Wegbegleiter wie sein ehemaliger Kapitän Bastian Schweinsteiger forderten indirekt, jedoch öffentlich Löws Ablösung. Der kam er mit seiner Rücktrittsankündigung Anfang März zuvor; Löw wollte selbst entscheiden, wann es vorbei ist, sich nicht vorführen lassen von irgendwelchen Funktionären im Verband.

"Ich gehe diesen Schritt ganz bewusst, voller Stolz und mit riesiger Dankbarkeit", so ließ sich Löw Anfang März zitieren, "gleichzeitig aber weiterhin mit einer ungebrochen großen Motivation, was das bevorstehende EM-Turnier angeht." Eine "lame duck", eine lahme Ente ist er trotz zeitnahem Ausscheiden aber keineswegs. Nicht nur die ebenfalls in die Jahre gekommenen Weltmeister folgen ihm weiter bedingungslos, auch lange Unterschätzte wie Antonio Rüdiger, Matthias Ginter oder Robin Gosens, also Profis, die es ohne ihn vielleicht gar nicht geschafft hätten, weiß er fest hinter sich.

Dass es Löw in den letzten Wochen seiner Dienstzeit schleifen lassen könnte, musste ohnehin niemand befürchten, der ihn etwas näher kennt. Stattdessen möchte er sich einfach nur mit dem bestmöglichen Ergebnis verabschieden, es ein letztes Mal allen zeigen – wofür er selbst den Neuaufbau ruhen lässt.

Vor allem die Rückholaktion von Thomas Müller und Mats Hummels, die er eigentlich nicht mehr sehen wollte im Nationaltrikot, spricht eindeutig dafür, dass es Löw bei seinem finalen Turnier nochmal wissen, ja fast erzwingen möchte. All in. Zu verlieren hat er sowieso nicht mehr viel außer etwas Rest-Prestige. Aber das ist ihm egal. Ebenso, dass es einige der Jungstars eher uncool fanden, sich jetzt wieder etwas weiter hinten einreihen zu müssen.

Innenverteidiger Hummels, trotz seines fortgeschrittenen Alters nach wie vor einer der Besten auf seiner Position, bescheinigt dem bald aus seinem Amt scheidenden Bundestrainer sogar ein Höchstmaß an Professionalität und Emotionalität. "Er hat auf jeden Fall wieder eine Schippe draufgelegt, an Intensität, Wille, Motivation", sagte Hummels kürzlich der ARD-Sportschau: "Er will dieses große wunderbare Kapitel erfolgreich beenden."

Dieses große, wunderbare Kapitel hat zwar auch den einen oder anderen düsteren Absatz, ist aber insgesamt doch eine Erfolgsstory. 194 Länderspiele, davon 123 gewonnen und nur 32 verloren. Dabei hat er 112 Fußballern zu ihrem Länderspiel-Debüt verholfen, von Malik Fathi bis Ridle Baku. Dienstältester Nationaltrainer darf er sich nennen, ebenso Rekord-Bundestrainer, Sepp Herberger und Helmut Schön hat er längst hinter sich gelassen. Die 200er-Marke würde er nur knacken, wenn er "Die Mannschaft" mindestens ins Halbfinale führte. Fünfmal hat er das bei Welt- und Europameisterschaften bereits geschafft.

"Wir haben viel erreicht", sagt Löw rückblickend, möchte jetzt aus verständlichen Gründen aber nur nach vorn schauen. Heute Abend Frankreich, am Samstag Portugal, schon die letzte Gruppenpartie gegen Ungarn am 23. Juni könnte sein persönliches Abschiedsspiel werden. Da auch die vier besten Dritten weiterkommen, ist das Worst Case-Szenario wohl eher unwahrscheinlich. Spätestens ab dem Achtelfinale muss Löw aber damit rechnen, schon am nächsten Morgen Vergangenheit zu sein beim Deutschen Fußball-Bund.

An ihm soll es nicht scheitern. Schon im letzten, eigentlich unbedeutenden Test gegen Lettland (7:1) vor acht Tagen näherte sich Löw seiner Top- und somit Turnier-Form. Der Tonfall seiner Analyse verriet, dass es ihm ausgesprochen ernst war. "Tempo, Intensität muss noch mehr gesteigert werden, dann ist das bis nächste Woche in Ordnung", ordnete Löw an, "konsequent agieren, in jeder Beziehung."

"Das Gegentor ärgert mich ein bisschen"

Aufregen musste er sich besonders über einen nachlässig verteidigten Einwurf. Beim Stand von 6:0. Sekunden später hieß es 6:1, nach einem Traumtor eines Letten namens Aleksejs Saveljevs eine Viertelstunde vor Schluss. So nicht, meine Herren. "Das Gegentor ärgert mich ein bisschen", knurrte Joachim Löw hinterher in ein Mikrofon. "Es war ein ruhender Ball, den muss man besser verteidigen." Ende der Durchsage.


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