Wendelsteins Bahnhof-Ikone: Ein Leben für die Eisenbahn

28.12.2010, 08:01 Uhr
Wendelsteins Bahnhof-Ikone: Ein Leben für die Eisenbahn

© Lerch

Wenn Maximilian Schreier in seinen Fotoalben blättert und in die Vergangenheit zurückblickt, kommt er schnell ins Schwärmen. Die Erinnerungen sprudeln förmlich aus ihm heraus: der Besuch Konrad Adenauers in Wendelstein, ein zweites Gleis in Röthenbach, ein extra Theaterzug.

Der Beruf des Eisenbahners liegt ihm im Blut, auch sein Vater war bereits Bahnhofsvorsteher in Wendelstein. Doch selbstverständlich ist das keineswegs, denn die Familie Schreier kam mit vielen anderen Flüchtlingsfamilien nach dem Krieg als Vertriebene im Nachkriegsdeutschland an.

Der 1925 in Röwersdorf geborene Schreier wächst im Nachbarort Liebenthal auf. Die früher schlesischen Dörfer liegen im heutigen Tschechien. Dort wohnt die Eisenbahnerfamilie im Bahnhof. Die Ausbildung zum Vermessungstechniker, die der junge Mann beginnt, kann er nicht abschließen. 1942 wird er zum Kriegsdienst eingezogen.

Neue Heimat in Franken

„Vor dem Tod hatte ich keine Angst, aber vor der russischen Kriegsgefangenschaft!“ Deshalb wandert er vom Osten bis zur Elbe. Dort gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Doch der junge Soldat hat Glück. Er wird entlassen, begibt sich auf die Suche nach seiner Familie. Und findet sie schließlich in Nürnberg.

Die Bundesbahndirektion Nürnberg muss nach dem Krieg den Beschäftigten der Eisenbahndirektion Oppeln einen Arbeitsort zuweisen. Für den Vater wird in Wendelstein eine Stelle frei. Die Familie kann in das Bahnhofsgebäude einziehen. Der Sohn Maximilian fängt bei der Bahn eine allgemeine Verwaltungsausbildung an.

Wendelsteins Bahnhof-Ikone: Ein Leben für die Eisenbahn

© oh

Die Schilderungen des Alltags klingen bei heute so selbstverständlicher Mobilität unglaublich. Täglich läuft er von Wendelstein zu seiner Arbeitsstelle nach Nürnberg. Bei jedem Wetter, bei jeder Schicht. Ein Fahrrad kann er sich erst leisten, als bei der Währungsreform jeder Bürger 40 D-Mark erhält. Noch einmal so viel muss er sich ausleihen, dann kann er sich das Rad kaufen. „Überhaupt ist man viel gelaufen“, erinnert sich seine Frau Anni, eine geborene Wendelsteinerin. „Die Nürnberger Straßenbahn ging früher bis zur Bauernfeindstraße, da sind wir von Wendelstein aus mit dem Fahrrad hingefahren, aber auch oft gelaufen und dann mit der Straßenbahn weiter in die Stadt gefahren. In die umgekehrte Richtung haben auch viele Nürnberger Wendelstein als Ausflugsziel am Wochenende besucht und sind in den zahlreichen Gaststätten eingekehrt.“

Theaterzug am Samstagabend

Täglich verkehrten zwischen Wendelstein und Feucht etwa zehn Züge, am Wochenende waren es weniger. Der erste Zug fuhr um 5 Uhr morgens los. Meistens musste man in Feucht umsteigen, oder es fand ein „Kopfwechsel“ statt. Das heißt, dass die Lok vom Anfang des Zuges an das Ende rangiert wurde. Deshalb dauerte es rund 50 Minuten, bis man von Wendelstein am Nürnberger Hauptbahnhof ankam.

Immerhin fuhr Samstagabend ein „Theaterzug“, schmunzelt der 85-Jährige. Er sieht in seinen alten Fahrplänen nach, die er allesamt aufgehoben hat. Mit dem Finger fährt er die passende Zeile entlang: „Um 23.24 Uhr fuhr der Zug am Nürnberger Bahnhof ab.“ So konnten die Wendelsteiner ins Nürnberger Theater gehen, ohne nach Hause laufen zu müssen.

Gewöhnlich hingen an einer Dampflok zwischen drei und vier Waggons. Ein weiterer Haltepunkt war Röthenbach bei St. Wolfgang. Ein zweites Gleis sollte über Röthenbach eine Verbindung nach Nerreth herstellen. Auf dem ehemaligen MAN-Gelände war ursprünglich kriegsbedingt der Bau eines Panzerwerks vorgesehen. Doch aus den Plänen wurde nichts. Sowohl die Gleise als auch eine bereits existierende Brücke über den Kanal wurde schon vor Kriegsende wieder abgebaut.
 

Nichts ist dem Vollbluteisenbahner fremd

1951 schließt Maximilian Schreier seine Verwaltungsausbildung ab, 1953 wird er Beamter. Abwechslungsreich und kunterbunt wird sein Berufsleben. Unter anderem arbeitet er im Fahrplanbüro, als Fahrdienstleiter, rechnet später Kostenvoranschläge für Frachtgüter nach ganz Europa und Asien aus. Nichts ist dem Vollbluteisenbahner fremd.

1957 wird die Stelle in Wendelstein frei. „Obwohl die Strecke keine Zukunftsperspektive für mich bot, habe ich doch zugegriffen.“ Die Nähe zum Arbeitsplatz ist ein wesentlicher Vorteil.

Adenauer in Wendelstein

1955 wird zwar die Personenförderung auf der Strecke zwischen Wendelstein und Feucht eingestellt und durch Busse ersetzt. Doch weiterhin existiert der Güter-, Express-, Stückgut- und Gepäckverkehr. Und was wird transportiert? Holz, Metall, Steine, Düngemittel und natürlich bergeweise Kohle. Anni Schreier ergänzt: „Die Wendelsteiner Brauerei brauchte enorm viel Kohle. Die wurde dann in der Kirchenstraße durch kleine Fensteröffnungen in der Außenfassade hinein geschaufelt.“

Völlig unerwartet wird das Jahr 1957 zum echten Höhepunkt für den Bahnhofsvorsteher: Legendär ist die Übernachtung des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Wendelstein.

Der Staatsmann hat Termine in Nürnberg. Er übernachtet nicht etwa in der Noris, sondern sucht einen ruhigen Ort, an dem er in seinem eigenen Waggon schlafen kann. Was liegt da näher als der Wendelsteiner Bahnhof, wo abends alles ruhig ist? 

Pullmann-Limousine fährt mit

Nach Nürnberg lässt sich Adenauer mit seiner legendären Pullmann-Limousine chauffieren, die in seinem Reisezug mitfährt. Und die Wendelsteiner? Natürlich wollen die ihren Bundeskanzler sehen. Maximilian Schreier deutet auf die Schwarz-Weiß-Aufnahmen in seinem Album: Vor der Absperrung tummeln sich zahlreiche Neugierige aus der Gemeinde.

An die Kinder lässt Adenauer durch seine Sekretärin Schokolade verteilen. Auch der damalige Schwabacher Landrat Eugen Tanhauser begrüßt den Bundeskanzler.

Kühles Wasser aus der Schwarzach

Karin, die kleine Tochter der Schreiers, und ihr Cousin, der heutige Gemeinderat Norbert Weschta, überreichen Blumen. Und weil es so heiß ist, bespritzt die Wendelsteiner Feuerwehr den Waggon nicht etwa mit Wasser aus dem nahe gelegenen Kanal. Weil das Wasser nicht kühl genug ist, wird es aufwändig aus der Schwarzach hoch gepumpt.

Immer wieder kommt der jung gebliebene 85-Jährige auf das Ereignis zu sprechen. „Adenauer kam sogar noch einmal nach Wendelstein. Aber so ein großes Hallo wie beim ersten Mal hat es dann nicht mehr gegeben“, erinnert er sich.

Danach verkehrt die Eisenbahn zwischen Wendelstein und Feucht nur noch zwei Jahre. An das Datum an seinem letzten Arbeitstag in Wendelstein erinnert er sich genau.

„Ich war ja noch jung“

Am 31. Januar 1960 sperrt er den Bahnhof zu. Die knapp sechs Kilometer lange Nebenbahnstrecke ist mit der gestiegenen Mobilität nicht mehr rentabel.

Aber wer Maximilian Schreier kennt, weiß, dass er darüber keine Tränen vergossen hat. „Ich war ja noch jung und wollte weiterkommen“, resümiert er, „auf der kleinen Nebenbahnstrecke hätte ich keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr gehabt.“

Wendelstein ist er trotzdem treu geblieben, hat er sich in seiner Freizeit doch immer ehrenamtlich engagiert. Vor allem als Chorleiter der Sängerriege Wendelstein. 34 Jahre lang übte er dieses Ehrenamt aus. Zusätzlich führte er 15 Jahre lang den Wirtschaftsbetrieb des TSV Wendelstein, bevor der selbst eine Gaststätte baute.

„Und überhaupt“, verrät der rüstige Pensionist, der in seinem Leben keinen Tag krank war, ein Rezept zum Altwerden: „Ich habe immer Musik gemacht, Klavier, Geige und Bratsche gespielt, erst im Bundesbahnorchester, später beim Fürther Kammerorchester. Das hält jung“. Und wenn man ihn so sieht, glaubt man es ihm gerne.